Der Fluch der Sphinx
Bauwerks beeindruckten sie sogar stark und erfüllten sie mit Ehrfurcht. Das lag nicht so sehr an der Größe, obwohl sie naturgemäß eine Rolle spielte, sondern mehr an dem Umstand, daß dieses Monument dem Versuch des Menschen Ausdruck verlieh, eine Spur in der unerbittlich ablaufenden Zeit zu hinterlassen.
Erica entnahm ihrer Tasche den Baedeker, schlug den Text über die Große Pyramide auf und betrachtete dieGrundrißzeichnung des Inneren. Sie versuchte, die Abbildung mit den Augen Nenephtas zu sehen. Dabei erkannte sie, daß sie wahrscheinlich etwas wußte, das Nenephta nie erfahren hatte. Sorgsame Forschungen hatten ergeben, daß man während des Baus an der Großen Pyramide – sowie auch bei den meisten anderen Pyramiden – erhebliche Abweichungen von dem ursprünglichen Bauplan vornahm. Es gab sogar eine Hypothese, die besagte, die Große Pyramide habe drei verschiedene Bauphasen durchgemacht. Im ersten Stadium, als die Planung ein wesentlich kleineres Bauwerk vorsah, sollte die Grabkammer unterirdisch liegen und mußte daher aus dem Muttergestein gehauen werden. Dann, als man den Bau erweiterte, plante man eine neue Grabkammer im Innern des Bauwerks ein. Erica suchte nach der Darstellung dieser zweiten Grabkammer. Sie war irrtümlich als Grabkammer der Königin bezeichnet. Erica wußte, daß man die unterirdische Gruft nur mit einer Sondergenehmigung des Department of Antiquities betreten durfte. Die »Grabkammer der Königin« stand jedoch der Allgemeinheit offen.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Fast war es acht Erica wollte zu den ersten Besuchern der Pyramide gehören. Sobald die Busse mit den Touristen eintreffen würden, mußte es in den engen Gängen ziemlich unerfreulich werden.
Indem sie die hartnäckigen Reitangebote von Esel- und Kameltreibern ausschlug, schritt Erica die Straße zum Plateau hinüber, auf dem die Pyramide stand. Je näher sie dem Bauwerk kam, um so ungeheurer wirkte es. Obwohl sie die Berechnungen der Millionen Tonnen von Kalkstein auswendig kannte, die zum Bau verwendet worden waren, hatten solche Zahlen sie nie beeindruckt. Aber nun, da sie sich bereits im Schatten desMonuments befand, ging sie wie in Trance darauf zu. Auch ohne die ursprüngliche weiße Kalksteinschicht reflektierte die Sonne auf den Flächen der Pyramide und blendete unangenehm.
Erica erreichte den höhlenartigen Eingang, der die äußere Erweiterung des Stollens darstellte, den im Jahre 820 n.Chr. Kalif Mamun hatte graben lassen. Andere Leute waren noch nicht zu sehen, und sie schritt rasch hinein. Düstere Schatten und schwaches indirektes Licht lösten das grelle Licht des Tages ab.
Der Stollen des Kalifen stieß knapp hinter den Granitblöcken, die im Altertum eingesetzt worden waren und sich noch an Ort und Stelle befanden, auf den engen Schräggang nach oben. Die Decke des ansteigenden Ganges war nicht viel höher als ein Meter sechzig, und Erica mußte sich beim Laufen bücken. Um den Aufstieg zu erleichtern, hatte man in die schlüpfrige Steigung des Fußbodens Querrippen eingelassen. Der Gang war ungefähr dreißig Meter lang, und als Erica am unteren Ende des Großkorridors herauskam, war sie froh, daß sie wieder aufrecht stehen konnte.
Mit der gekragten, über sechs Meter hohen Decke war es hier im Vergleich zum vorherigen Gang angenehm geräumig. Der Großkorridor besaß die gleiche Steigung wie der kleine Gang. Zur Rechten Ericas bedeckte ein Eisengitter die Öffnung des abwärtsführenden Schachts zur unterirdischen Grabkammer. Vor ihr lag der Zugang, den sie suchte. Erica bückte sich wieder und durchquerte den langen, horizontalen Gang, der in die »Grabkammer der Königin« führte.
Im Innern der Kammer konnte sie sich dann wieder aufrichten. Die Luft war stickig, und Erica erinnerte sich an ihre Angstzustände im Grabe Sethos’ I. Der Raum war, wie alle Innenwände der Pyramide, ohne Verzierungen. Sie holte ihre Taschenlampe hervor und ließ den Lichtkegel rundum wandern. Die gewölbte Decke bestand aus schweren Kalksteinplatten in Zickzackanordnung.
Erica schlug in ihrem Baedeker die Grundrißzeichnung der Pyramide auf. Erneut versuchte sie wie ein Baumeister vom Rang Nenephtas zu denken, stünde er hier an ihrer Stelle in der Pyramide, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß das Bauwerk schon zu seinen Zeiten seit über tausend Jahren stand. Aus der Zeichnung ersah sie, daß sie sich im Innern der »Grabkammer der Königin« genau über der ursprünglichen
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