Der Fluch der Sphinx
Niemand war zu sehen, abgesehen von einer Gruppe in Schwarz gekleideter Frauen, die auf ihren Köpfen schwere Wasserkrüge schleppten. Erica schaute zweimal hinüber. Die Frauen trugen Schleier.
Einige hundert Meter hinter dem Dorf hielt der Fahrer an und deutete voraus. »Sethos«, sagte er, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen.
Erica stieg aus dem Auto. Hier also lag es. Abydos. Der Ort, den Sethos I. wählte, um einen prachtvollen Tempel zu errichten. Als Erica ihren Reiseführer herausholte, stürzte sich eine Schar Halbwüchsiger auf sie, um ihr Skarabäen aufzuschwatzen. Sie war an diesem Tag die erste Touristin, und sie konnte dem aufdringlichen Geschrei nur entgehen, nachdem sie die fünfzig Piaster Eintritt bezahlt und sich aufs Tempelgelände gerettet hatte.
Dort setzte sie sich auf einen Kalksteinblock, den Baedeker in der Hand, und las den Text über Abydos. Sie war mit der Tempelanlage einigermaßen vertraut, wollte sich jedoch darüber informieren, welche Abschnitte während der Herrschaft Sethos’ I. mit Hieroglyphen versehen worden waren; fertiggestellt hatte den Tempel erst Sethos’ Sohn und Nachfolger, Ramses II.
Völlig in Unkenntnis von Ericas Abstecher nach Abydos stand Khalifa in Luxor auf dem Bahnsteig und beobachtete das Aussteigen der Reisenden. Der Zug war pünktlich angekommen, und eine Menschenmenge, die ihn beim Einfahren mit lautem Stimmengewirr begrüßte, drängte auf die Türen zu. Es entstand ungeheures Durcheinander, alles schrie herum, und vor allem trugen zu dem Getöse die fliegenden Händler bei, die den Passagieren der dritten Klasse, die nach Aswan weiterfuhren, durch die unverglasten Fenster der Waggons Obst und kalte Getränke verkauften. Jene Leute, die ausstiegen, und diejenigen, welche einsteigen wollten, bildeten ein wildes Getümmel, als plötzlich Pfiffe ertönten. Die ägyptischen Eisenbahnen verkehrten unerbittlich nach Fahrplan.
Khalifa rauchte eine Zigarette, dann noch eine, ließ den Qualm an seiner Hakennase emporsteigen. Er stand ein wenig abseits von dem Chaos an einer Stelle, von wo aus er den gesamten Bahnsteig ebenso wie den Hauptausgang überblicken konnte. Ein paar verspätete Reisende liefen dem Zug nach und sprangen noch auf. Erica war nirgendwo zu sehen. Als er die zweite Zigarette geraucht hatte, verließ Khalifa das Bahnhofsgebäude durch den Haupteingang. Er strebte zur Hauptpost hinüber, um in Kairo anzurufen. Irgend etwas war schiefgegangen.
Abydos, 11 Uhr 30
Erica wanderte durch den Tempel Sethos’ I. Ein Raum war schöner als der andere. Endlich konnte sie sich dem Geheimnis Ägyptens ungestört anheimgeben. Die Reliefs des Tempels waren einfach herrlich. Sie hatte sich innerlich bereits dazu entschlossen, in einigen Tagennochmals Abydos zu besuchen, um weitere Hieroglyphen an der Tempelmauer zu übersetzen. Vorerst untersuchte sie Sethos’ Inschriften nur darauf, ob darunter irgendwo der Name Tutanchamun auftauchte. Er war nirgends zu finden. Nur in der Galerie der Könige, wo nahezu alle altägyptischen Pharaonen in chronologischer Reihenfolge aufgezählt waren, stand er dabei.
Als sie in die inneren Räume des Tempels vordrang, deren Deckenplatten noch original erhalten waren, benutzte sie ihre Taschenlampe, um die Hieroglyphen besser zu erkennen.
Lautlos sagte Erica sich eine Kurzfassung des Textes auf der Statue Sethos’ I. vor: »Ewiger Friede sei Sethos I. gewährt, der nach Tutanchamun herrscht.« Sie mußte zugeben, daß die Formulierung hier in Sethos’ Tempel nicht viel sinnvoller klang als auf dem Balkon des Hilton. Erica kramte aus ihrer Segeltuchtasche die Fotos von der Hieroglypheninschrift der Statue hervor. Sie schaute sich im Tempel nach einer ähnlichen Zeichenkombination um. Das erforderte viel Zeit, und am Ende hatte sie doch keinen Erfolg. Anfangs gelang es ihr nicht einmal, den Namen Sethos’ I. in der gleichen Schreibweise wie auf der Statue zu finden, nämlich in Verbindung mit dem Gott Osiris. Im Tempel verband man ihn hauptsächlich mit dem Gott Horus.
Ohne daß es Erica merkte, wurde es Nachmittag, und sie kümmerte sich nicht um Hitze und Hunger. Es war bereits fünfzehn Uhr vorbei, als sie durch die Osiriskapelle das Allerheiligste des Gottes betrat. Einst war es eine prächtige Halle gewesen, deren Decke zehn Säulen gestützt hatten. Nun erfüllte der Sonnenschein die Halle mit Helligkeit und ließ die wundervollen Reliefs leuchten, die mit dem Kult Osiris’ zusammenhingen, dem
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