Der Fluch der Sphinx
Gott der Toten.
Außer ihr hielten sich keine Touristen in der eingestürzten Halle auf, und Erica ließ sich Zeit, blieb ungestört, während sie sich die herausgemeißelten Kunstwerke betrachtete. Am anderen Ende der menschenleeren Halle kam sie an eine niedrige Tür. Dahinter war es dunkel. Sie schlug im Baedeker nach; der jenseitige Raum war darin lediglich als Kammer mit vier Säulen beschrieben.
Erica schalt sich wegen ihrer Ängstlichkeit, holte ihre Taschenlampe heraus und duckte sich unter der niedrigen Tür hindurch. Langsam ließ sie den Lichtkegel über die Wände und Säulen sowie die Decke des totenstillen Raums gleiten. Sehr vorsichtig suchte sie sich einen Weg über den unebenen Boden und umrundete die wuchtigen Säulen. In der Wand auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich die Durchgänge zu den drei Kapellen von Isis, Sethos I. und Horus. Neugierig betrat sie Sethos’ Kapelle; die Nachbarschaft vom Heiligtum des Osiris gab ihr Mut.
Keine Spur von Tageslicht drang in die kleine Kapelle ein. Ericas Taschenlampe konnte nur einen begrenzten Bereich erleuchten. Der Rest des Raumes blieb im Dunkeln. Sie ließ den Lichtkegel rundum wandern, bemerkte jedoch fast augenblicklich inmitten der Hieroglyphen eine Kartusche Sethos’ I. die genau jener auf der Statue glich: Sethos in Gleichsetzung mit Osiris.
Erica studierte die Hieroglyphen rund um die Kartusche; sie setzte voraus, daß der Text senkrecht von links nach rechts verlief, und ohne alles Wort für Wort zu übersetzen, ermittelte sie binnen kurzem, daß die kleine Kapelle nach Sethos’ Ableben vollendet worden war und bei Osiris-Ritualen Verwendung gefunden hatte. Dann stieß sie auf etwas Merkwürdiges. Anscheinend handelte es sich um einen Eigennamen. Das war fast unglaublich.
Auf Pharaonendenkmälern erschienen gewöhnlich nie persönliche Namen.
Sie fügte die Laute zusammen. Ne-neph-ta.
Erica senkte den Lichtkegel auf den Fußboden, um ihre Tasche abzustellen. Sie wollte den eigentümlichen Namen fotografieren. Sie beugte sich vor und erstarrte urplötzlich. Im Lichtkreis der Lampe lag eine Kobra, den Kopf erhoben, den Körper gekrümmt, und die Gabelzunge schnellte wie eine winzige Peitsche vor und zurück; die gelben Augen mit ihren geschlitzten schwarzen Pupillen fixierten sie drohend. Erica stand wie gelähmt. Erst als die Schlange sich regte, den Kopf einzog und davonglitt, löste sich ihre Spannung, und sie wagte, sich zu der niedrigen Tür der Kapelle umzuschauen. Nach einem zweiten Blick auf die Schlange, die sich davonschlängelte, floh sie hinaus in den Sonnenschein.
Der Wärter dankte Erica für den Hinweis und erzählte, daß sie schon seit vielen Jahren versuchten, die Kobra zu fangen und zu töten; man pflegte das Osiris-Heiligtum dann zeitweilig zu schließen.
Trotz des Zwischenfalls mit der Schlange verließ Erica die Tempelanlage nur ungern, um sich zurück nach Balianeh fahren zu lassen. Es war ein wunderbarer Tag gewesen. Die einzige Enttäuschung war, daß ihr ein Foto des Namens Nenephta noch nicht geglückt war. Erica beabsichtigte, über diesen Namen Nachforschungen anzustellen. Sie überlegte, ob es sich um einen Vizekönig Sethos’ I. gehandelt haben könne.
Der Zug nach Luxor fuhr mit fünf Minuten Verspätung ab. Erica machte es sich auf ihrem Platz mit den Büchern über Tutanchamun bequem, aber die vorüberhuschende Landschaft lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Das Niltal begann sich zu verengen, so daß man stellenweise an beiden Ufern die bebauten Felder sehen konnte. Während die Sonne dem westlichen Horizont sich zuneigte, sah Erica immer mehr Menschen auf dem Heimweg. Kinder ritten auf Wasserbüffeln. Männer zogen Esel mit schweren Lasten hinter sich her. Erica blickte in Hinterhöfe und fragte sich, ob diese Menschen in ihren Häusern aus Lehmziegeln das Gefühl der Geborgenheit und Liebe kannten, es aus ihren religiösen Mythen schöpfen konnten, oder ob sie sich beständig der Flüchtigkeit des Lebens bewußt sein mochten. In gewissem Sinne war ihr Leben zeitlos, wurde ihnen vom Schicksal nur für eine kleine Weile geliehen.
Bei Nag Hammadi überquerte der Zug den Nil vom West- zum Ostufer und setzte die Fahrt durch riesige Zuckerrohrfelder fort, die jeden Ausblick auf die Landschaft versperrten. Erica widmete sich wieder ihren Büchern, nahm »The Discovery of the Tomb of Tutankhamen« von Howard Carter und A. C. Mace zur Hand. Sie fing an zu lesen, und obwohl sie es kannte, vertiefte sie
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