Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
durchsuchen und die Leute zu befragen. Was sie nur noch unbeliebter machen würde, als sie es sowieso schon war.
Gähnend sagte sie sich, dass sie in Sizilien einfach einen Silberschmied mit der Anfertigung eines neuen Kreuzes beauftragen würde.
Aber die Nacht war noch nicht vorüber.
Dieses Mal kam das Schreien aus dem Garten, auf den man aus dem Gästehaus des Abtes hinabsehen konnte.
Dieses Mal waren es ganz fürchterliche Schreie.
Dieses Mal waren es die von Boggart.
Eine der Hofdamen murmelte verärgert: »Wer hat denn Sir Nicholas schon wieder von der Leine gelassen?« Adelia griff bereits nach ihrem Umhang. Unten zog sie die Riegel der Tür zurück und stürmte nach draußen.
Mitten auf dem Rasen lag Sir Nicholas’ massiger, bebender Körper über Boggarts Füßen und hielt ihre Fesseln gepackt. Der Schatten der beiden im Mondlicht sah aus wie eine riesige Häkelnadel, nur dass da noch ein kleiner Hund am Hosenboden des Mannes zerrte.
Es wäre ein ganz und gar komischer Anblick gewesen, hätte Boggarts Mund nicht ein O des Schreckens geformt und wären die Schreie, die pumpend daraus hervordrangen, nicht Ausdruck einer zutiefst gepeinigten Seele gewesen.
Adelia half Ward, an den Kleidern von Sir Nicholas zu zerren, vermochte aber auch nicht mehr als der kleine Vierbeiner auszurichten. Der Ritter gab keinen Fingerbreit nach und war wie von Sinnen. »Lass sie los, verfluchter Kerl!«, schrie Adelia. »Schande über dich, du schrecklicher alter Mann, lass sie los!«
Später erinnerte sie sich, Lachen aus den Fenstern des Gästehauses gehört zu haben, aber sie wusste in diesem Moment, und daran änderte sich auch hinterher nichts, dass das, was sie da sah, nichts Lächerliches hatte. Da geschah etwas Schreckliches.
Sie warf sich auf den Mann und griff ihm um den Kopf, um die Finger in seinen Augen zu vergraben. Aber Sir Nicholas schüttelte sich wie ein Bulle, und ihre Nägel kratzten über seine Backen. Und dann hob sie jemand hoch, sie und Ward, und ein anderer zerrte Sir Nicholas’ klobige Gestalt von Boggarts Füßen und warf ihn rücklings ins Gras.
Sie erhaschte einen Blick auf das Gesicht des Ritters, es war fremd, haltlos und leer. Dann hievten ihn sein Knappe und ein anderer Mann auf die Beine und schleppten ihn davon.
Rowley versuchte Boggart zu trösten. »Ist ja schon gut, mein Liebes. Du musst keine Angst haben. Er hat diese Anwandlungen, sie bedeuten nichts. Es ist ja nichts passiert.«
»Da frag
sie
mal!«, fauchte Adelia. Sie nahm den zitternden Ward und legte ihn Boggart in die Arme. Mit einer Hand auf ihrer Schulter schob sie sie zu der steinernen Bank neben einer Laube.
Rowley folgte ihnen. »Kann ich etwas tun?«, fragte er ratlos.
»Nein«, erklärte Adelia. »Wir bleiben hier eine Weile ruhig sitzen.«
Er setzte sich zu ihnen, neben Adelia, auf die andere Seite. Boggart starrte etwas an, das sie nicht sehen konnten. Sie hielt Ward so fest an sich gedrückt, dass die Schauer, die ihren Körper erzittern ließen, auch ihn erfassten.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Rasens schlossen sich die Fensterläden. Das Unterhaltungsprogramm war beendet.
»Wenigstens hat er diesmal die Schuhe dagelassen«, sagte Rowley und versuchte die Stimmung etwas aufzuhellen.
Adelia musterte Boggarts Schuhe. Sie hatte sie ihr in Caen gekauft, zusammen mit einem weiteren Paar und Reitstiefeln, um die groben, genagelten, viel zu großen Männerholzschuhe zu ersetzen, die das Mädchen in Southampton getragen hatte. Es hatte die neuen Schuhe an sich gedrückt, wie es jetzt Ward an sich drückte, und lange nicht überzeugt werden können, sie zu tragen, weil es Angst hatte, sie könnten schmutzig werden. Am Ende hatte Adelia einfach die alten Holzschuhe genommen und weggeworfen.
Sir Nicholas’ Leckattacke hatte den Schuhen übel mitgespielt. Die kleinen Bänder an den Seiten hingen schlaff und nass herunter.
»Warum macht er das?«, fragte Adelia. »Was kann das … warum?«
»Ich weiß es nicht.« Rowley machte eine Pause. »Sie hat früher schon mal was Schlimmes erlebt, oder?«
»Ich glaube schon.«
»Es tut mir leid.« Er tätschelte Adelia die Hand und stand auf. »Dann will sie mich hier nicht haben.«
»Nein.«
Als Adelia ihn widerstrebend weggehen sah, wurde sie einen Moment lang von dem Gefühl überwältigt, was für ein Glück sie hatte, von ihm geliebt zu werden. Rowley war ein Mann mit Fehlern, so wie alle Männer Fehler hatten und sie eine unvollkommene Frau war, aber
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