Der Fluch des Verächters - Covenant 01
lange bis zum Wechsel, aber endlich zeigte die Ampel das Grün für ihn an. Er betrat den Fußgängerüberweg.
Ehe er drei Schritte getan hatte, hörte er eine Sirene heulen. Rotlicht zuckte auf, und aus einer Gasse schoß ein Polizeiauto auf die Hauptstraße. Es schleuderte und schaukelte unter dem rücksichtslosen Schwung des Abbiegemanövers, dann raste es direkt auf Thomas Covenant zu. Er erstarrte wie im Zugriff einer unsichtbaren Faust. Er wollte weitergehen, aber er war zu nichts anderem imstande als stillzustehen, wie angewurzelt, und er starrte dem heranrasenden Kühlergrill des Wagens entgegen. Einen Moment lang vernahm er das wahnwitzige Kreischen von Bremsen. Dann brach er zusammen.
Als er stürzte, hatte er das unbestimmte Gefühl, er falle zu früh, es sei noch kein Zusammenprall erfolgt. Aber er konnte gegen den Sturz nichts tun; er fürchtete sich zu sehr, fürchtete sich vorm Zermalmtwerden. Nach all seiner langgeübten Selbstüberwachung so einen Tod zu sterben! Plötzlich drang eine gewaltige Schwärze in sein Bewußtsein, die hinter dem Sonnenschein stand, hinter den herausgeputzten Schaufenstern und auch dem Quietschen der Reifen. Die Helligkeit um seinen Kopf und der Asphalt darunter schienen lediglich auf diesen schwarzen Hintergrund aufgemalt zu sein, und nun senkte sich dieser Hintergrund in seiner ganzen Schwärze auf ihn herab, hüllte ihn ein, durchströmte ihn. Schwärze sickerte durchs Sonnenlicht wie ein kalter Bote der Nacht. Er dachte an einen Alptraum. Bleib getreu! hörte er absurderweise die Stimme des alten Bettlers. Du brauchst nicht zu straucheln.
Die Finsternis durchdrang alles, überschwemmte den Tag, und das einzige, dessen Covenant sicher war, daß er es wirklich sah, war ein vereinzeltes rotes Leuchten, das vom Streifenwagen kam – ein roter Blitz, heiß, scharf und fürchterlich, war er wie eine Klinge auf seine Stirn gerichtet.
3
Verlockung zum Verrat
Für die Dauer einer Frist, die er nur an seinen Herzschlägen zu ermessen vermochte, schwebte Covenant im Dunkeln. Der rote Lichtspeer wirkte auf ihn wie der einzige Fixpunkt eines Universums, das ringsum ins Brodeln geraten zu sein schien; ihm war zumute, als müsse er eine ungeheure Umwälzung des Himmels und der Erde sehen können, wüßte er nur, wohin er zu schauen hatte, aber die Schwärze und der heiße rote Lichtspeer auf seiner Stirn hinderten ihn an Bewegungen, und er mußte die Strömungen, die ihn umwallten, unbesehen hinziehen lassen. Unter dem Druck des grausamen roten Lichtstrahls konnte er in seinen Schläfen jeden Pulsschlag pochen fühlen, als wäre es sein Verstand, der ihm das Leben auspumpte, nicht sein Herz. Die Schläge kamen langsam – zu langsam für das Maß von Anspannung, das er empfand. Er vermochte nicht zu begreifen, was mit ihm geschah. Aber jeder Herzschlag schüttelte ihn, als sei sein Hirn selbst einem Hammerwerk ausgeliefert. Urplötzlich begann der blutrote Lichtspeer zu flackern, dann teilte er sich. Er näherte sich dem Lichtschein – oder dieser näherte sich ihm. Die beiden feuerroten Flecken waren Augen.
Im nächsten Moment vernahm er Gelächter – grelle, schrille Heiterkeit voller Triumph und alter Bosheit. Die Stimme krähte wie ein gehässiger Gockel, der die Morgendämmerung der Hölle ankündet, und Covenants Herz erbebte bei diesem Klang. »Geschafft!« keckerte die Stimme. »Ich! Mein!« Erneut brach sie in gackerndes Gelächter aus. Covenant war nun nahe genug, um die Augen klar zu erkennen. Sie wiesen kein Weiß und keine Pupillen auf; rote Kugeln füllten ihre Augenhöhlen aus, und darin schwamm lavagleiche Glut. Ihre Hitze war so dicht vor ihm, daß sie auf Covenants Stirn brannte. Dann loderten die Augen auf, schienen die Luft ringsum zu entzünden. Flammen waberten nach allen Seiten, hüllten Covenant in einen düsteren Glanz. Er bemerkte, daß er sich in einer Felsenhöhle befand. Ihre Wände fingen die Helligkeit ein und bewahrten sie, so daß die Höhle auch nach dem einmaligen Auflodern der Augen erhellt blieb. Der Fels war glatt, aber in viele hundert unregelmäßige Facetten unterteilt, als sei die Höhle mit einem schadhaften Messer aus dem Gestein geschabt worden. Rundum klafften in den Felswänden der Höhle Eingänge. Hoch über seinem Kopf erstreckte sich die Höhlendecke aus einer dichten Traube von Stalaktiten, wogegen der Boden der Höhle glatt und abgenutzt war wie nach zahllosen Schritten vieler Füße. Roter Schein glomm empor
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