Der Fluch des Verächters - Covenant 01
Steinhausen?«
»Nein.« Er spürte die Versuchung, sie danach zu fragen, was ein Steinhausen war, aber ihn beschäftigte eine wichtigere Frage. »Wo ...« Das Wort blieb ihm im Halse stecken, als wäre es ein riskantes Zugeständnis an die Finsternis. »Wo sind wir?«
»Wir sind hier auf dem Kevinsblick.« Leichtfüßig sprang das Mädchen auf und streckte seine Arme nach der Erde und zum Himmel aus. »Schau her!« Mit einem Zähneknirschen rappelte sich Covenant so weit auf, daß er sich, indem er sich umdrehte, an die Brüstung knien konnte. Den Brustkorb auf das Mauerwerk gestützt, zwang er sich dazu, seinen Blick in die Weite ringsum schweifen zu lassen. »Das ist das Land«, sagte Lena so heiter, als übe die nach allen Seiten ausgedehnte Erde auf sie eine angenehme Wirkung aus. »Es reicht im Norden, Westen und Osten viel weiter, als das Auge sehen kann, obwohl die alten Lieder behaupten, Hoch-Lord Kevin habe hier gestanden und das ganze Land und alle seine Menschen gesehen. Daher hat diese Felsspitze den Namen Kevinsblick. Ist es möglich, daß du das nicht weißt?«
Covenant schwitzte trotz des kühlen Windes. Ein Schwindelgefühl sauste in seinen Schläfen, und nur die harte Kante des Mauerwerks, gegen sein Herz gedrückt, verhalf ihm zur Selbstbeherrschung. »Ich weiß überhaupt nichts«, stöhnte er hinab in die Tiefe.
Lena sah ihn besorgt von der Seite an, dann wandte sie den Blick wieder hinaus ins Land. Mit einem schlanken Arm deutete sie nach Nordwesten. »Dort fließt der Mithil«, sagte sie. »Unser Steinhausen steht an seinem Ufer, doch ist es von hier aus hinterm Berg verborgen. Er fließt vom Südlandrücken, der hinter uns liegt, bis zum Schwarzen Fluß, in den er mündet. Dort ist die nördlichste Gegend der Südlandebenen, wo die Erde wenig fruchtbar ist und kaum Menschen leben. In den Südlandebenen gibt es nur fünf Steinhausen. Aber im nordwärtigen Teil des Landrückens wohnen einige Holzheimer. Östlich der Hügel liegen die Ebenen von Ra.« Als sie weitersprach, schien ihre Stimme vor Begeisterung Funken zu sprühen. »Das ist die Heimat der freien Wildpferde, der Ranyhyn, deren Hüter die Ramen sind. Fünfzig Längen weit galoppieren sie über die Ebenen dahin und dienen niemandem, den sie sich nicht selbst auswählen.« Sie seufzte. »Ach, Thomas Covenant, es ist mein Traum, einmal diese Pferde sehen zu dürfen! Die Mehrzahl in unserem Dorf ist im Übermaß zufrieden, die Leute reisen nicht und haben von der Welt noch nicht soviel gesehen wie ein Holzheimer. Ich aber wollte zu gerne durch die Ebenen von Ra schreiten und die Pferde dahingaloppieren sehen.« Nach einem längeren Schweigen setzte sie ihre Beschreibung fort. »Diese Berge dort sind der Südlandrücken. Dahinter liegen die Einöden und die Graue Wüste. Dort gibt's keine Wege und kein Leben. Alles Land liegt nördlich, westlich und östlich von hier. Und wir befinden uns auf dem Kevinsblick, wo der höchste der Alt-Lords in der letzten Schlacht stand, vorm Anbruch der Trostlosigkeit. Die Menschen hier wissen das und meiden diesen Ort als eine Stätte böser Omen. Meine Mutter Atiaran ging jedoch oft mit mir hierher, um mir das Land zu zeigen und mich darüber zu belehren. Und in zwei Jahren werde ich alt genug sein, um die Schule der Lehre zu besuchen und noch mehr zu lernen, so wie meine Mutter.« Als sie weitersprach, strotzte ihre Stimme vor Stolz. »Weißt du, daß meine Mutter bei den Lehrwarten gelernt hat?« Sie sah Covenant an, als erwarte sie, daß er unerhört beeindruckt sei. Dann jedoch senkte sie den Blick. »Aber du bist ja ein Lord und kennst alle diese Dinge. Du lauscht meinen Worten, damit du mich insgeheim verlachen kannst.«
Unter dem Einfluß ihrer Stimme und dem Druck seines Schwindelgefühls ereilte ihn eine flüchtige Vision dessen, wie das Land ausgesehen haben mußte, nachdem Kevin leichtfertig das Ritual der Schändung vollzogen hatte. Hinter dem klaren Morgen sah er kahle, von allem entblößte Hügel, verdorrtes Erdreich, fauliges Wasser, das in Flußbetten durch widerwärtig schmutzige Rinnsale sickerte, und über alldem lag eine dumpfe Düsternis von Stille – keine Vögel, keine Insekten, keinerlei Tiere, keine Menschen, nichts lebte, um im Angesicht der Verwüstung ein Blatt zu regen, ein Summen oder Knurren zu erheben, mit dem Finger darauf zu deuten. Da rann ihm Schweiß in die Augen, so daß sein Blickfeld verschwamm wie durch Tränen. Er riß sich von der Aussicht los und setzte
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