Der Fluch des Verächters - Covenant 01
sich wieder mit dem Rücken an die Brüstung.
»Nein«, sagte er leise zu Lena. Du begreifst das nicht , dachte er. »Was es für mich an Lachen gab, das habe ich schon gelacht ... vor langem.« Nun war es ihm, als sähe er den Weg vor sich, den er einschlagen mußte, um der Finsternis des Wahnsinns zu entrinnen, die über ihm schwebte. Während der kurzen Vision der Trostlosigkeit hatte er den Pfad erspäht, den sein Traum ihm vorgab. »Ich muß zum Großrat der Lords«, sagte er, indem er alle Umschweife beiseite ließ, um keine Fragen stellen oder beantworten zu müssen.
Er sah in ihrer Miene, daß sie ihn gerne gefragt hätte, warum. Anscheinend gelangte sie jedoch zu der Schlußfolgerung, daß es ihr nicht zustünde, nach seinen Zwecken zu fragen. Seine Erwähnung des Großrats bestätigte in ihren Augen lediglich ihre Einschätzung seiner Person. Sie trat zum Abstieg. »So komm«, sagte sie. »Dann müssen wir ins Steinhausen. Dort wird man eine Möglichkeit finden, um dich nach Schwelgenstein zu bringen.« Sie machte ganz den Eindruck, als wolle sie ihn dorthin begleiten.
Aber der bloße Gedanke an den Abstieg erschreckte ihn. Wie sollte er ihn bewältigen? Er konnte nicht einmal über die Brüstung blicken, ohne daß ihm schwindelte. Als Lena ihre Aufforderung wiederholte, mit ihr zu gehen, schüttelte er den Kopf. Ihm fehlte der Mut. Irgend etwas jedoch mußte er tun. »Vor wie langer Zeit herrschte diese Trostlosigkeit?« erkundigte er sich zu Lenas Verwirrung.
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie sachlich. »Die Bewohner der Südlandebenen kamen vor zwölf Geschlechtern über die Berge zurück aus den rauhen Einöden. Und es heißt, der Hoch-Lord Kevin habe sie zuvor gewarnt, so daß sie entfliehen und in der Verbannung der Wildnis fünfhundert Jahre lang überleben konnten, von der Hand in den Mund und durch Rhadhamaerl -Wissen. Diese Kunde ist ein Vermächtnis, das wir nicht vergessen. Mit fünfzehn legt jeder von uns den Friedensschwur ab, und wir leben um des Lebens und der Schönheit des Landes willen.«
Er hörte sie kaum; sein Interesse an ihren Ausführungen war nicht sonderlich groß. Aber er bedurfte des Klangs ihrer Stimme, um im inneren Gleichgewicht zu bleiben, während er um Kraft rang. Mit einiger Mühe besann er sich auf eine weitere Frage, die sich ihr stellen ließ. »Was hast du hier in den Bergen gemacht?« fragte er und atmete tief ein. »Wieso warst du hier oben, so daß du mich sehen konntest?«
»Ich widmete mich einer Steinerkundung«, antwortete sie. »Ich lerne gerade die Suru-pa-maerl . Kennst du diese Kunst?«
»Nein«, sagte er zwischen zwei Atemzügen. »Erkläre sie mir.«
»Das ist die Kunst, die ich von Acence lerne, meiner Mutter Schwester, und sie lernte sie von Tomal, dem besten Kunstmeister, soweit man sich in unserem Steinhausen zurückerinnert. Auch er verbrachte eine Zeitlang an der Schule der Lehre. Die Suru-pa-maerl jedoch ist die Kunst, Bildnisse aus Steinen zu machen, ohne sie zu bearbeiten oder ein Bindemittel anzuwenden. Ich durchstreife die Hügel und schaue mir die Formen der Steine und Kiesel an. Und wenn ich eine Gestalt sehe, die ich verstehe, nehme ich den Stein mit mir heim und gebe ihm seinen Platz unter anderen Steinen, vielleicht im Gleichgewicht mit ihnen, und zusammen mit den übrigen Steinen entsteht eine neue Gestalt. Manchmal, wenn ich besonders angeben will, glätte ich eine Unebenmäßigkeit, so daß die Steine sich schöner zusammenfügen. Auf diese Weise grabe ich die zerbrochenen Geheimnisse der Erde wieder aus und schenke den Menschen Schönheit.«
»Das muß schwierig sein«, murmelte Covenant, »sich eine Form vorzustellen und dann Steine zu suchen, aus denen sie sich zusammenpassen läßt.«
»Das ist nicht die Art dieser Kunst. Ich betrachte vielmehr die Steine und wähle sie nach der Gestalt aus, die ihnen bereits innewohnt. Ich bitte die Erde nicht, mir ein Pferd zu schenken. Die Kunst besteht daraus, zu erkennen, was die Erde anzubieten beliebt. Vielleicht ist es ein Pferd.«
»Ich würde deine Tätigkeit in dieser Kunst gern einmal kennenlernen«, sagte Covenant, ohne darauf zu achten, was er redete. Die Stufen lockten ihn an wie das verführerische Antlitz der Vergeßlichkeit, angesichts dessen Leprakranke ihre Selbsterhaltungs-Disziplin verloren, ihre Hände und Füße, ihr Leben. Aber er träumte ja. Um einen Traum zu ertragen, war es die beste Methode, sich in seinen Lauf zu fügen, bis er endete. Er mußte diesen
Weitere Kostenlose Bücher