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Der Fluch des Verächters - Covenant 01

Der Fluch des Verächters - Covenant 01

Titel: Der Fluch des Verächters - Covenant 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Donaldson
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Abstieg bewältigen, um zu überleben. Diese Notwendigkeit überwog alle anderen Erwägungen. Mit einer Ruckartigkeit, als habe ihn eine Zuckung befallen, schwang er sich auf die Füße. Er stellte sich aufrecht in den Mittelpunkt des ummauerten Kreises, achtete nicht auf den gewaltigen Berg und den Himmel, mißachtete die Tiefe unter sich und unterzog sich einer gründlichen Untersuchung. Er zitterte, während er seine noch lebendigen Nerven nach Schmerzen oder Stichen erkundete, seine Kleidung auf Risse und Schlitze besah, seine gefühllosen Hände begutachtete. Er mußte den Abstieg hinter sich bringen. Er konnte überleben, weil dies ein Traum war – und ein Traum durfte ihn nicht das Leben kosten –, weil er diese Finsternis nicht auszuhalten vermochte, deren Schwingen er ständig hinter seinen Ohren spürte.
    »So, nun hör mir mal zu!« fuhr er Lena an. »Ich muß vor dir hinabsteigen. Sieh mich nicht so merkwürdig an. Ich habe dir gesagt, daß ich aussätzig bin. Ich habe Lepra. Meine Hände und Füße sind taub – ohne Gefühl. Ich kann nicht greifen. Und ich ... ich komme in solchen Höhen nicht gut zurecht. Ich könnte stürzen. Deshalb will ich dich beim Hinunterklettern nicht unter mir haben. Du ...« Er stockte, und als er wieder sprechen konnte, klang seine Stimme heiser. »Du hast dich anständig zu mir verhalten, dergleichen habe ich schon lange vermissen müssen.«
    Sie duckte sich unter seinem Tonfall. »Warum bist du so zornig? Habe ich dich gekränkt?«
    Ja, indem du freundlich zu mir warst! maulte er in Gedanken. Sein Gesicht war grau vor Furcht, als er sich umdrehte, sich auf Hände und Knie niederließ und rückwärts durch die Lücke in der Brüstung stieg. In der ersten Hast seines schlottrigen Handelns senkte er seine Füße mit geschlossenen Augen auf die Stufen. Aber er konnte die Klettertour ohne den Einsatz seiner Augen nicht fortsetzen; die Gewohnheit des Leprakranken, sich unter ständiger Selbstbeobachtung zu halten, und das Erfordernis, sich aller Sinne zu bedienen, gaben den stärkeren Ausschlag. Doch mit offenen Augen brachte die Höhe die Welt rings um seinen Kopf ins Schleudern. Daher verlegte er sich darauf, seinen Blick vor sich auf den Fels zu richten. Nach dem ersten Schritt wußte er, daß die größte Gefahr in der Taubheit seiner Füße bestand. Die tauben Hände machten ihn jedes Griffs unsicher, und noch ehe er eine Strecke von einem Dutzend Meter überwunden hatte, packte er die Kanten der Stufen so fest, daß sich seine Schultern verkrampften. Aber er konnte seine Hände sehen, er sah, daß sie sich auf den Fels stützten, daß es sich beim Schmerz in seinen Handgelenken und Ellbogen nicht um eine Täuschung handelte. Seine Füße dagegen konnte er nicht sehen – außer er schaute nach unten. Er bemerkte nur daran, daß er einen Fuß auf eine Stufe setzte, wenn sein Knöchel die Last seines Gewichts zu spüren bekam. Bei jedem Abwärtsschritt stützte er sich auf eine Vermutung. Fühlte er eine unerwartete Anspannung in dem Schmerz, mußte er sich mit den Armen halten und mehr von seinem Fuß auf die unsichtbare Stufe zum Ruhen bringen. Er versuchte, mit den Fußspitzen über die Stufen zu rutschen, so daß die Unterbrechung des Kontakts ihm verrate, wann seine Zehen eine Stufe verließen und über der nächsttieferen Stufe schwebten; wenn er sich allerdings irrte, prallte er mit den Schienbeinen oder Knien auf die Kanten der Stufen, und bei diesem scharfen Schmerz versagten ihm jedesmal seine Beine fast den Gehorsam. Während er derartig Stufe um Stufe hinabkletterte, seine Hände anstarrte, ihm Ströme von Schweiß in die Augen rannen, verfluchte er das Schicksal, das ihm zwei Finger genommen hatte – zwei Finger weniger zu seiner Rettung, falls seine Füße ihn im Stich ließen. Außerdem verursachte das Fehlen einer halben Hand ihm das Empfinden, daß sein Halt rechts schwächer sei als links, daß sich sein Gewicht zur Linken der Treppe neige. Immer wieder schob er die Füße unwillkürlich zu weit nach rechts, um einen Ausgleich zu gewährleisten, und dabei verfehlte er auf dieser Seite immer wieder die Stufen. Er sah keine Möglichkeit, um sich den Schweiß aus den Augen zu entfernen. Er brannte, als wolle er ihn blenden, aber Covenant war zu furchtsam, um eine Hand zu heben und ihn abzuwischen; er wagte nicht einmal den Kopf zu schütteln, aus Furcht, er könne aus dem Gleichgewicht geraten. Krämpfe quälten seinen Rücken und die Schultern. Er mußte

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