Der Fluch des Verächters - Covenant 01
Baum. Er sah keine Lichter, vernahm keine Stimmen; die tiefschwarzen Massen von Ästen und Zweigen glitten so anstandslos an ihm vorüber, als solle er bis in den Himmel erhoben werden. Bald stach ein scharfer Schmerz in seinen Schultern, und in den Armen verbreitete sich Taubheit. Den Hals nach droben verrenkt, stierte er empor ins lichtlose Grauen und japste wie ein Ertrinkender. Plötzlich kam es zu einem Halt. Ehe er seine Fassung zurückgewinnen konnte, flackerte eine Fackel auf, und er sah, daß er sich in einer Höhe mit drei Männern befand, die auf einem Ast standen. In der plötzlichen Helligkeit sahen sie genauso aus wie jene Männer, die sich drunten seiner bemächtigt hatten, doch einer von ihnen trug um den Kopf einen schmalen Kranz aus Blättern. Die zwei anderen Männer musterten Covenant für einen Moment, dann streckten sie die Arme aus und packten ihn am Hemd, zogen ihn zum Ast hinüber. Als seine Füße den dicken Ast berührten, erschlaffte das Tau, und die Arme fielen ihm herab. Seine Handgelenke waren noch zusammengebunden, aber er suchte sich an einem der Männer festzuhalten, um zu verhindern, daß er vom Ast stürzte. Doch seine Arme waren wie abgestorben; er vermochte sie nicht zu regen. Unter ihm klaffte die Finsternis wie der Rachen einer gierigen Bestie. Mit einem Aufkeuchen warf er sich den Männern entgegen, um sie so zu seiner Rettung zu nötigen. Grob packten sie zu. Er weigerte sich, das eigene Gewicht über den Ast zu befördern, und zwang sie dazu, ihn auf der ganzen Länge des Astes zu schleppen und zu schleifen, bis zu einem breiten Spalt im Baumstamm. Dahinter war das Innere des Baums zu einer großen Kammer ausgehöhlt, und Covenant sackte schwerfällig nieder auf den Boden, durchgeschüttelt von einem Schaudern der Erleichterung. Gleich darauf entfaltete sich rings um ihn immer eifrigeres Treiben. Er schenkte ihm keine Beachtung; er hielt die Augen geschlossen, um sich auf die harte Stabilität des Fußbodens und das schmerzhafte Kribbeln, mit dem das Blut in seine Arme und Hände zurückkehrte, zu konzentrieren. Der Schmerz war gräßlich, aber er erduldete ihn in verbissenem Schweigen. Bald juckte es in seinen Händen, und die Finger fühlten sich geschwollen und heiß an. Er spannte die Muskeln, krümmte die Finger zu Klauen. Durch die Zähne murmelte er im beschleunigten Rhythmus seines Herzschlags sein unweigerliches ›Hölle und Verdammnis! Hölle und Verdammung!‹
Er schlug die Augen auf. Er lag auf poliertem Holz, genau am Mittelpunkt der Myriaden von konzentrischen Kreisen des Baumstamms. Die Altersringe schienen den gesamten Raum auf seine Person zu konzentrieren, als läge er im Mittelpunkt einer Zielscheibe. In seinen Armen herrschte ein seltsames Gefühl der Nutzlosigkeit, aber er erlegte ihnen den Zwang auf, ihn in eine sitzende Haltung zu stemmen. Danach betrachtete er erst einmal seine Hände. Seine Handgelenke waren durchs Einschneiden des Taus geschunden, aber sie bluteten nicht. Lumpen! Er hob den Kopf und spähte umher. Die Kammer durchmaß ungefähr fünf Meter und beanspruchte anscheinend den vollen Durchmesser des Baumstammes. Der einzige Zugang war jener, durch den er ins Innere gepoltert war, und er sah die Dunkelheit draußen; die Baumkammer selbst jedoch war hell von Fackeln erleuchtet, die in der Wandung staken – von Fackeln, die ohne Rauchentwicklung brannten und allem Anschein nach auch nicht abbrannten. Die polierte Wandung glänzte, als sei sie lackiert, wogegen die hoch überm Fußboden befindliche Decke aus unregelmäßigem, unbearbeitetem Holz bestand. Fünf Holzheimer umstanden Covenant; drei davon waren Männer, zwei Frauen. Alle waren sie in gleichartige, mantelähnliche Kleidungsstücke gehüllt, die sich an ihre Gliedmaßen zu schmiegen schienen, nur in der Farbtönung wiesen sie stärkere Unterschiede auf; alle fünf waren sie größer als Covenant. Ihre Körpergröße flößte ihm unwiderstehlich ein Gefühl der Bedrohung ein, und deshalb erhob er sich langsam auf die Füße, streifte dabei sein Bündel von der Schulter, als er sich aufrichtete. Einen Augenblick später betrat der Mann, der als Anführer unter den Holzheimern gewesen war, die Covenant unten gefangengenommen hatten, die Baumkammer, gefolgt von Atiaran. Sie wirkte unbehelligt, aber müde und bedrückt, als hätten das Mißtrauen und der Aufstieg ihre Kräfte untergraben. Als sie Covenant erblickte, kam sie an seine Seite. »Nur zwei, Soranal?« erkundigte sich eine
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