Der Fluch vom Valle della Luna
hätte Filippo De Magistris bestimmt arglos die Tür geöffnet, er war ein Kommilitone und ein Freund ihrer Schwester. Die Ärmste, wie würde sie reagieren, wenn sie erfuhr, dass ihr Freund, den sie bei sich versteckt hatte, womöglich ihre Zwillingsschwester umgebracht hatte? Nein, das ist einfach zu absurd ...
Nelly ließ den Blick zwischen den Anwesenden hin- und herwandern. Mit düsterer, verschlossener Miene hockte Filippo zusammengesunken auf demselben Stuhl, auf dem Giancarlo Pisu ihr vor einigen Wochen von Zweifeln und Selbstvorwürfen zerfressen gegenübergesessen hatte. Ein rücksichtsloser, zu allem bereiter Mörder, wild entschlossen, das an seiner Familie begangene Unrecht heimzuzahlen? Antonella Pasquis Stimme rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie verlas die Anklage, das Verhör hatte begonnen. Es war zwei Uhr nachmittags.
»Signor De Magistris, das Blut auf dem Slip und dem Unterhemd, die in einer Tüte auf dem Balkon Ihrer Wohnung gefunden wurden, stammt von Marilena Pizzi. Würden Sie uns verraten, wo sich Signora Pizzi jetzt befindet? Und ob sie noch lebt?«
Filippo schüttelte den Kopf.
»Jemand hat diese Kleidungsstücke auf meinem Balkon deponiert, um mich in die Pfanne zu hauen. Offenbar mit Erfolg«, fügte er ätzend hinzu. »Es ist nicht schwer, auf den Balkon zu gelangen, man muss nur aufs Gerüst klettern. Ich habe keine Ahnung, wo Marilena Pizzi ist. Aber mir ist klar, dass alles gegen mich spricht, genau wie damals bei meinem Großvater.«
»Lassen wir fürs Erste Ihren Großvater aus dem Spiel. Sagen Sie mir lieber, wer ein Interesse daran haben könnte, Sie in Schwierigkeiten zu bringen, Sie in die Pfanne zu hauen, wie Sie sagen.«
Die Staatsanwältin musterte ihn ruhig, ihre Stimme klang freundlich. Er schüttelte abermals den Kopf.
»Ich weiß, dass ich in der Scheiße stecke. Das alles ist einfach unglaublich, unfassbar. Ich studiere schließlich Jura und weiß, wie das, was ich sage, wirken muss ...«
»Sie sind nicht verpflichtet, auf die Anschuldigungen zu antworten, Signor De Magistris. Ich würde Ihnen raten ...« Fiorenza De Mattei hatte sich zu ihrem Mandanten gebeugt, doch Filippo hob abwehrend die Hand.
»Ich weiß, Avvocato, ich weiß. Aber beweise ich meine Unschuld, wenn ich schweige? Ich kann doch wenigstens versuchen zu erklären, wie die Dinge meiner Meinung nach gelaufen sind.«
Nelly blickte auf die Uhr und konnte ihren Augen nicht trauen. Es war sechs Uhr abends, und man war kaum einen Schritt vorangekommen, wiewohl Filippo sich nicht hinter absolutem Schweigen verschanzt hatte wie damals sein Großvater. Seine Erklärung der Tatsachen war derart absurd, dass einem nichts mehr dazu einfiel. Kindisch geradezu. Er hatte sich als ahnungsloses Opfer hingestellt. Fiorenza De Mattei würde es mit seiner Verteidigung nicht leicht haben, vor allem wenn Marilena Pizzi nicht bald wieder auftauchte, und das möglichst lebend. Der Junge war in die Zelle zurückgebracht worden, seine Anwältin hatte sich verabschiedet und war gegangen. Nelly und Antonella Pasqui machten sich auf den Weg hinaus und kommentierten die spärlichen Neuigkeiten, die bei dem Verhör herausgesprungen waren.
»Er behauptet, erst vor acht Monaten von seiner Herkunft erfahren zu haben. Von seiner Großmutter, kurz vor ihrem Tod. Er habe sich für die Pisus interessiert, weil die Großmutter ihm erzählt hätte, Giacomo wäre für ihr Unglück verantwortlich«, meinte Nelly nachdenklich.
»Die arme De Mattei ist fast umgekippt, als er das gesagt hat. Der hat sich selbst die Schlinge um den Hals gelegt. Er hat zugegeben, die Tätigkeit in der Detektei des Brigadiere Basile sei ihm nützlich gewesen, um etwas über die Pisus in Erfahrung zu bringen. Doch alles andere leugnet er, Unfälle, Morde und die Entführung. Auch wenn er für die fraglichen Zeitpunkte nicht den Hauch eines Alibis hat.«
»Er streitet nicht nur alles ab, sondern weigert sich auch zu sagen, wo er Marilena Pizzi gefangen hält. Wenn sie denn noch ...«
Nelly brachte den Satz nicht zu Ende. Die Staatsanwältin nickte.
»Wenn sie denn noch am Leben ist«, schloss sie und fügte hinzu: »Dabei weiß er ganz genau, dass zwischen Entführung und Mord ein himmelweiter Unterschied besteht.«
»Dann hat er beschrieben, was ihm bei Aggius zugestoßen sein soll. Völlig abwegig. Ein unbekannter Mister X hätte ihn kontaktiert und ihn mit wichtigen Enthüllungen über seine Familie in das Valle della Luna gelockt. Dort sei
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