Der Fluch Von Belheddon Hall: Roman
zog die Tür halb hinter sich zu; wenn Tom aufwachte, würde Luke ihn hören.
Nachdem sie den Kessel auf den Herd gestellt hatte, ging sie zur Hintertür. Draußen herrschte morgendliche Dunkelheit und Stille. Kein Vogelgezwitscher; kein Verkehrslärm, wie sie ihn in London gehört hätte, keine fröhlich klirrenden Milchflaschen. Sie zog ihren dicken Mantel an und trat in den Hof hinaus. Das Chassis des alten Bentley war noch am Abend in die Garage gebracht worden; jetzt stand hier nichts außer ihrem Citroën, bedeckt mit einer Schicht Rauhreif. Als sie die Gartenpforte aufschob, spürte sie die eisige Kälte sogar durch ihre Handschuhe hindurch. Sie trat auf den weißgefrorenen Rasen; über ihr strahlten die Sterne am Himmel, als sei es noch mitten in der Nacht. Mit einem Blick am Haus hinauf stellte sie fest, daß hinter den Vorhängen von Lyns Zimmer ein schwaches Licht brannte. Konnte auch sie in dem ungewohnten Bett nicht schlafen?
Das Gras unter ihren Füßen war gefroren; fast glaubte sie, das Knirschen von Glassplittern zu hören, als sie über den Rasen schritt, vorbei an den schwarzen, skelettartigen Ästen des Baumes, und zum schimmernden Wasser hinunterging. Im Osten verblaßten allmählich die Sterne. Bald würde es Tag werden.
Mehrere Sekunden blieb sie still stehen, vergrub die behandschuhten Hände in den Taschen und starrte auf das Eis, während der Garten um sie herum unmerklich heller wurde. Die Kälte betäubte sie, doch von der Kälte abgesehen empfand sie noch etwas anderes – Beklommenheit, sogar Angst über den Schritt, den sie gemacht hatten. Im Grunde hatten sie keine andere Wahl gehabt. Selbst wenn Luke eine Arbeitsstelle bei einer anderen Firma gefunden hätte, hätten sie kaum die Miete für eine angemessene Wohnung bezahlen können; und ganz bestimmt hätten sie sich kein neues Haus kaufen können. Sie konnten es sich nicht leisten, weiterhin in London zu leben. Aber dieses Haus, dieser Ort – alles war so vollkommen anders. Es war ein völlig anderes Leben als das, das sie sich bei ihrer Hochzeit ausgemalt hatten. Sie schnitt eine Grimasse, stampfte mit den Füßen auf, wollte aber noch nicht ins Haus zurück. Eine neue Welt, neue Menschen, neue Erinnerungen – nein, Erinnerungen war das falsche Wort. Eine Geschichte, die erlernt und angenommen und irgendwie gelebt werden mußte.
Sammy!
Die Stimme, die Stimme eines Jungen, hallte plötzlich durch die Dunkelheit hinter ihr. Rasch drehte Joss sich um.
Sammy!
Jetzt erklang sie wieder, aber aus größerer Entfernung.
Jenseits des Rasens war in ihrem und Lukes Schlafzimmer ein Licht angegangen. Die Vorhänge waren nur halb geschlossen, und ein breiter Lichtstrahl fiel über den mit Rauhreif besetzten Garten.
»Ja?« In der tiefen Stille klang Joss’ Stimme heiser und störend. »Wer ist da?« Sie blickte sich um. Die Sterne verblaßten jetzt zusehends; zwischen den Sträuchern im Gebüsch wogte ein trübes Grau. Sie runzelte die Stirn. »Ist dort jemand?« rief sie wieder, diesmal mit lauterer Stimme, die über das Wasser hallte. In der Ferne rief ein Vogel. Dann kehrte wieder Stille ein.
Rasch wandte sie sich zum Haus um und stellte fest, daß sie heftig zitterte. Vor der Tür schlüpfte sie aus den Stiefeln, streifte sich die Handschuhe ab und hauchte auf ihre Finger, während sie in die Küche lief. Aus dem Kessel stieg fröhlich Wasserdampf auf. Als zehn Minuten später Luke erschien, saß sie am Tisch, noch immer in ihren Mantel gehüllt, und wärmte sich die Finger an einem Becher Tee.
»Na, Joss, wie ist es für dich?« fragte er lächelnd, als er sich von der Spüle einen Becher holte.
Sie hob den Kopf, um ihm einen Kuß auf den Mund zu geben. »Wunderbar. Seltsam. Beängstigend.«
Lachend legte er seine Hand auf ihre. »Wir werden’s schon schaffen, Joss.« Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Möchtest du wirklich, daß Alice und Joe noch bleiben? Willst du nicht erst ein Gefühl für dein neues Zuhause bekommen?« Er sah sie forschend an. »Ich weiß, wieviel dieses Haus dir bedeutet, Liebling. Ich kann deine Gefühle wirklich nachvollziehen. Wenn es dir nicht paßt …«
»Doch«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich brauche sie hier, Luke. Ich kann es nicht erklären, aber ich brauche sie. Es ist, als ob sie etwas Solides darstellen, etwas aus meinem alten Leben, an das ich mich klammern kann, eine Art Rettungsring. Außerdem liebe ich sie. Sie sind meine Eltern. Wer oder was Laura auch immer war, ich habe
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