Der Fluch Von Belheddon Hall: Roman
Geistesabwesend kratzte Lyn die blättrige Farbe vom Fensterhaken. Ihre Stimme klang bleiern.
Abrupt ließ Joss sich auf einen Stuhl fallen. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Sie wird sterben.«
»Lyn …«
»Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie stirbt.« Tränen liefen Lyn über die Wangen.
»Sie wird nicht sterben.« Joss stützte das Kinn in die Hände und atmete hastig ein. »Sie wird nicht sterben, Lyn. Sie wird wieder gesund werden. Ganz bestimmt.« Sie mußte ganz einfach wieder gesund werden. Plötzlich wurde Joss klar, daß sie sich ein Leben ohne ihre Mutter nicht vorstellen konnte. Sie brauchte die Frau, die ihre Mutter gewesen war, solange sie denken konnte, als Stütze im Hintergrund. Sie sah zu Tom, der am Boden saß und einen großen gelben Plastikbecher untersuchte; das Spielzeug hatte ihn abgelenkt, und sein Weinen wurde leiser. Plötzlich durchflutete sie ein Gefühl großer Liebe zu ihm. Letzten Endes war es Liebe, weswegen man so verletzlich war. Joss seufzte. Genau deswegen waren Familien so beglückend, aber aus dem gleichen Grund bereiten sie einem auch so viele Schmerzen.
Gerald Andrews zog die Tasse zu sich und hob sie mit seinen arthritischen Fingern mühsam hoch. Als er sie schließlich an die Lippen geführt hatte, sah er mit einem strahlenden Lächeln zu Joss. »Meine Liebe, das war wirklich rührend von Ihnen, mich zum Tee einzuladen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie lange ich mir schon wünsche, dieses Haus von innen zu sehen. Es ist irgendwie unvorstellbar, daß ich einen geschichtlichen Abriß darüber geschrieben habe, ohne es je zu betreten.«
Seine Veröffentlichung, ein dünnes Heft mit hellem Kartoneinband, lag zwischen ihnen auf dem Küchentisch. Auf dem Deckblatt war ein Holzschnitt von Belheddon aus dem 18. Jahrhundert abgebildet; die Buche vor dem Haus war gerade erst halb so hoch wie jetzt.
»Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich mit David Tregarron sprach und er mir sagte, daß er Sie kennt!« Er nahm einen Keks.
»Ich kann auch von Glück sagen.« Joss konnte es nicht erwarten, das Bändchen durchzublättern. »Es gibt noch so viel, das ich herausfinden möchte; ich weiß so wenig über meine Familie.«
Er nickte. »Ich habe Ihrer Mutter mehrmals geschrieben und gefragt, ob ich sie besuchen könnte, damals, als ich daran arbeitete, aber offenbar ging es ihr nicht gut. Miss Sutton hat mir jedesmal geantwortet und geschrieben, der Zeitpunkt sei nicht günstig. Dann ist Ihre Mutter fortgezogen, und es war zu spät.«
»Haben Sie lange hier gelebt?« Joss konnte ihre Neugier nicht mehr zügeln und öffnete die Broschüre. Das erste Kapitel hieß Die Anfänge .
»Ungefähr zehn Jahre. Ich habe rund ein halbes Dutzend von diesen Heftchen verfaßt, alle über bemerkenswerte Häuser in der Gegend. Das Old Rectory, Pilgrim Hall, Pickersticks House …«
»Pilgrim Hall?« Joss sah auf. »Das Haus meines Vaters?«
»Das Haus Ihres Großvaters. John Duncan wurde als Vormund Ihrer Mutter und ihres Bruders Robert eingesetzt, als deren Eltern starben – wahrscheinlich war es unvermeidlich, daß Johns Sohn sich in Laura verliebte. Eine Weile unterhielt er beide Häuser, aber nach Roberts Tod hat er Laura nach Pilgrim Hall geholt. Dieses Haus war seit einiger Zeit baufällig, aber weil es Lauras Erbteil war, konnten sie es natürlich nicht verkaufen. In späteren Jahren hat John Duncan viel Geld bekommen – wenn ich mich recht erinnere, hat er einen Verwandten beerbt, der im Fernen Osten lebte. John war ein seltsamer Kauz. Er hat Belheddon und Pilgrim Hall gleichermaßen gehaßt. Er vermachte den beiden Kindern, Philip und seinem Mündel Laura, Geld und zog ins Ausland. Seine Frau, Lady Sarah, blieb noch ein paar Jahre hier, bis die Kinder verheiratet waren, dann verkaufte sie Pilgrim
Hall – es ist wesentlich kleiner als Belheddon – und folgte ihrem Mann. Er ist nie wieder hergekommen, nicht einmal zur Hochzeit. Das war damals ein richtiger Skandal. Die Leute im Ort munkelten, er wäre mit einer dunklen Schönheit durchgebrannt …« Er lachte amüsiert auf. »Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß Lady Sarah sich das hätte bieten lassen. Sie hätte jede Rivalin mit ihrem Schirm totgeschlagen. Sie war eine sehr durchsetzungsfreudige Dame, Ihre Großmutter auf der Duncan-Seite.«
Joss lächelte. »Die beiden sind im Ausland gestorben, oder?«
»John schon, soweit ich weiß. Er hatte geschworen, nie wieder englischen Boden zu
Weitere Kostenlose Bücher