Der Fluch Von Belheddon Hall: Roman
dann ächzend auf. »Also, was Schlaflosigkeit angeht, kann ich Ihnen leider nicht helfen. Kurze Spaziergänge an der frischen Luft, Kakao oder heiße Milch vorm Schlafengehen und ein ruhiges Gewissen – das ist das beste Rezept. « Er ging zur Tür, wandte sich aber noch einmal um. »Sind Sie sicher, daß Ihnen das Haus keine Angst macht?«
»Ja.« Sie lächelte bekräftigend. »Es macht mir absolut keine Angst.«
Sonnenlicht durchflutete den Dachboden. Die Strahlen brachen sich an den getrockneten Regentropfen und dem Staub auf den Fenstern und tanzten in der Luft. Das würde eine wunderbare Kulisse für eine Szene in ihrem Roman abgeben – die warme Sonne, der Geruch der Jahrhunderte, das alte Eichenholz, der Staub, die absolute Stille. Etwas atemlos wegen der steilen Treppe ging Joss direkt zur Truhe an der Wand und klappte schwungvoll den Deckel auf. Erst vor einigen Tagen war es ihr gelungen, das Vorhängeschloß zu öffnen. Sie hatte Luke nicht bitten wollen, es für sie aufzusägen, und statt dessen eine Stunde
lang mit einer Haarnadel daran herumgespielt, bis es plötzlich wie von selbst aufgesprungen war. Beglückt hatte sie den schweren Deckel angehoben und den Inhalt untersucht. Bücher, Briefe, Dokumente – und ein Strauß getrockneter Blumen. Rosen. Alte, vertrocknete Rosen, die nach all der langen Zeit ihre Farbe verloren hatten, zusammengebunden mit einer Seidenschleife. Sie hatte sie vorsichtig auf den Boden gelegt und war die Papiere durchgegangen. Aus der Tiefe der Truhe war der muffige Geruch von Zedernholz und altem, brüchigem Papier aufgestiegen.
Ganz unten hatte sie John Bennets Tagebuch gefunden – des Mannes, der 1893 ihre Urgroßmutter geheiratet hatte und zehn Jahre später, 1903, spurlos verschwunden war.
Der letzte Eintrag, der eine Zeitspanne von rund fünf Jahren abdeckte, trug das Datum 29. April 1903. Mit zittriger Handschrift war auf die Seite gekritzelt:
Jetzt hat er also ein weiteres Opfer gefordert. Der Junge ist tot. Als nächstes bin ich an der Reihe. Warum kann sie nicht erkennen, was passiert? Ich habe sie gebeten, das Sakrament hier im Haus vollziehen zu lassen, aber sie weigert sich. Lieber Herr Jesus, steh uns bei.
Das war alles.
Joss setzte sich auf die Truhe, legte das Tagebuch aufgeschlagen auf ihren Schoß und sah durch das staubige Fenster nach draußen auf den strahlendblauen, eisigen Himmel. Lieber Herr Jesus, steh uns bei. Die Worte hallten ihr durch den Kopf. Was war mit John Bennet passiert? War er weggegangen, oder war er – wie er vorhergesehen hatte – gestorben? Sie blätterte das Buch durch. Bis auf die letzten waren die Einträge in einer festen, entschlossenen Handschrift geschrieben, und meist ging es um unpersönliche Dinge – um die Farm und das Dorf. Joss entdeckte den Eintrag über die Geburt des kleinen Henry John.
Mary hatte eine leichte Geburt, das Kind kam heute morgen um acht Uhr zur Welt. Er hat rote Haare und sieht Marys Vater sehr ähnlich.
Joss lächelte und fragte sich, ob hinter dieser Bemerkung eine leichte Ironie stecke. Wenn, dann war der Sinn der Anspielung schon lange vergessen.
Weiter vorne fand sie einen ähnlich lakonischen Bericht über seine Hochzeit mit Mary Sarah im Frühjahr 1893.
Heute wurden Mary und ich in der Kirche von Belheddon getraut. Es regnete, aber ich glaube, die Feier war gelungen. Wir haben so lange auf diese Hochzeit gewartet, und ich bete, daß die Ehe glücklich und fruchtbar sein und endlich das Glück in Belheddon Hall einziehen möge.
Nachdenklich kaute Joss auf ihrer Unterlippe. Also hatte er bereits damals Bescheid gewußt. Woher war John Bennet gekommen? Wie hatten er und Mary sich kennengelernt? Es stand alles in dem Buch. Sein Vater war Pfarrer in Ipswich; seine Mutter war einige Jahre zuvor gestorben. Nach einer Ausbildung im Rechtswesen hatte er offenbar mehrere Jahre als Partner in einer Anwaltskanzlei in Bury gearbeitet. Nach der Heirat kündigte er die Stelle, vermutlich um sich um die Geschäfte von Belheddon zu kümmern, denn zu der Zeit war es ein großes, wohlhabendes Gut mit Pachthöfen, Arbeiterkaten und Hunderten von Morgen Land.
Joss ließ das Buch in den Schoß sinken, lehnte sich gegen die Wand und starrte auf die Schatten auf der anderen Seite des Speichers. Durch die Sonnenstrahlen, die kunstvoll geschnitzten Stützpfosten und die gebogenen Dachsparren entstand ein dunkles Muster auf der Tapete, ein Schatten, der beinahe wie die Gestalt eines Mannes aussah. Sie
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