Der Fluch von Melaten
es hätte Ernst nicht gewundert, wenn plötzlich Dunstschwaden auf ihn zugetrieben wären.
Er wollte diesen Teil des Friedhofs zwar nicht als unheimlich beschreiben, aber er war auch nicht weit davon entfernt, und so hatte er das Gefühl, dass hier etwas auf ihn lauerte.
Er versuchte, sich den Inhalt seiner Träume zurückzuholen. Hatte er diese Umgebung gesehen oder war es eine andere gewesen? Er konnte sich nicht erinnern, denn der größte Teil seiner Träume war durch die Erscheinung ausgefüllt gewesen.
Bleich, gespenstisch. Mit einem Totenhemd oder Kleid versehen, das wie ein Nebelstreif gewirkt hatte. So etwas gab es nicht, das waren einfach nur Ausgeburten der Fantasie, aber die Träume waren so verdammt real gewesen, dass Ernst darin sogar den Geruch wahrgenommen hatte, der ihn jetzt ebenfalls umgab.
Er ging von einer Seite des Friedhofs auf die andere zu. Er wusste, dass das Areal an diesem Ende von einer Mauer umschlossen wurde, über die jeder mit Leichtigkeit steigen konnte, wenn er es nur wollte. Hinter der Mauer lag die Straßenbahn-Haltestelle Melaten. Da pulsierte das Leben, während hier auf dem Gelände eine Ruhe herrschte, die er als Totenruhe bezeichnete.
Er ging weiter. Schaute sich um. Lauschte auf jedes Geräusch. Es gab keinen Menschen mehr in der Nähe. Niemand lief mit einer gefüllten Gießkanne zu einem Grab, um dort Blumen zu wässern. Der Friedhof kam ihm plötzlich von allen Menschen verlassen vor, so dass es nur noch einen gab, der sich darüber wegbewegte.
Warme Luft von oben, feuchte von unten. Er fühlte sich fast wie in einer Sauna. In dieser Umgebung standen nicht mehr die prächtigen Gräber mit den großen Steinen, die schon Monumenten gleichkamen und an Kunstwerke erinnerten.
Hier waren die Gräber kleiner und längst nicht mehr so gepflegt. Die Büsche und Sträucher bildeten oft undurchdringliche Grenzen, und dazwischen waren immer wieder leere Rasenflächen zu sehen, die auf neue Gräber warteten.
Ernst Wienand wusste genau, wohin er seine Schritte lenken musste. In seinen Träumen war alles genau vorgezeichnet gewesen. Nahe der Mauer stand die kleine Kapelle. Sie wurde nicht mehr für irgendwelche Feiern oder Gottesdienste gebraucht. Er hatte mal in der Zeitung gelesen, dass sie verkauft werden sollte und die Stadt einen solventen Käufer suchte.
Genau dort, wo die Kapelle stand, war früher die Hinrichtungsstätte gewesen und auch die Peststation. Noch immer hinterließ dieser Flecken Erde bei vielen Menschen einen Schauer und ein ungutes Gefühl, wenn über die Vergangenheit gesprochen wurde. Sie schien sich in dem feuchten Boden festgefressen zu haben und ebenso in den alten Bäumen, deren Stämme oft schief gewachsen waren.
Ernst ging noch langsamer. Er war auf der Hut. Sein Blick änderte permanent die Richtung. Die Haut an seinen Wangen zuckte ebenso wie die Mundwinkel. Er blieb stehen, schaute auf die Kapelle und sah davor die leere Rasenfläche. Hinzu kamen die Grabsteine und auch Steinkreuze, die an den Mauern der Kirche lagen und so aussahen, als hätte sie jemand weggeworfen.
Wenn er sich nach rechts drehte, sah er das Grab eines Sektenmitglieds. Er wusste nicht, woran die Person gestorben war, aber auf dem Grab standen zahlreiche Beigaben aus aller Herren Länder. Kleine Steine, auch Figuren. Sogar Spielzeug und in Holz geritzte Botschaften an den Toten. Sie waren auch im gespaltenen Stamm des in der Nähe stehenden Baums zu lesen, wobei auch dort noch allerlei Mitbringsel festgeklemmt waren. Es war und blieb hell, aber Ernst Wienand fühlte sich wie von einer dunklen Wolke umgeben, obwohl er sie nicht sah. Er merkte aber, dass sich in seinem Innern etwas tat und das zurückkehrte, was er auch in seinen Träumen erlebt hatte.
Das gleiche Gefühl. Die Enge in seiner Brust. Zugleich der unsichtbare Stein, der an seinem Körper hing und dafür sorgte, dass die Atemzüge beschwerlich würden.
Am Ende seines Nackens hatten sich Schweißperlen gesammelt, die wie kalte Eiskugeln seinen Rücken hinabrannen und irgendwann versickerten.
Ernst Wienand sank etwas in sich zusammen. Jetzt drückte seine Haltung ebenfalls das Gefühl aus, das ihn quälte.
Angst...
War die Erscheinung in der Nähe? Wenn ja, wo hielt sie sich verborgen? Im Freien, versteckt im Boden oder würde sie durch die Mauer der Kapelle wehen?
Ernst erreichte einen Punkt, an dem er am liebsten weggelaufen wäre, aber seine Füße waren schwer geworden. Sie hielten ihn auf der Stelle
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