Der Fluch von Melaten
Denk mal daran, wie lange wir verheiratet sind. Schon über fündundzwanzig Jahre. Da muss man sich alles sagen können. Besonders dann, wenn es dem Partner nicht so gut geht.«
»Das weiß ich, Maria, aber trotzdem. Ich habe es nicht getan. Entschuldige.«
»Nicht nötig. Es ist ja nichts passiert.« Sie schaute in sein Gesicht mit dem gequälten Ausdruck. »Aber hast du dir dein weiteres Vorgehen auch genau überlegt?«
»Das habe ich.«
»Du willst also zum Friedhof?«
»Natürlich.«
»Weißt du denn, wohin du gehen musst?«
»Ja, bis zur alten Peststätte.«
»Da könntest du sogar mit der Bahn fahren.«
»Darauf verzichte ich, auch wenn die Haltestelle gegenüber ist. Nein, nein, ich...«
»Soll ich dich fahren?«
Ernst Wienand zuckte zusammen. »Um Himmels willen, nein, das auf keinen Fall. So etwas ist nicht drin. Das geht dich nichts an. Es ist einzig und allein meine Sache, verstehst du?«
Maria nickte ihm zu. »Ja, das verstehe ich, Ernst. Aber es gibt auch eine andere Seite. Wir sind seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, auch wenn ich dir das schon mal gesagt habe. Da sollten wir uns doch gegenseitig Vertrauen schenken. Denkst du denn, dass ich mir keine Sorgen um dich mache?«
»Das weiß ich doch«, gab er zu. »Aber diese Sache geht wirklich nur mich etwas an. Du musst dich einfach heraushalten, Maria. Ich will wissen, wer mir diese Träume geschickt hat, die mehr eine Botschaft sind. Warum will man mich auf den Friedhof locken – warum?«
»Ich wünschte mir, es zu wissen.«
»Das glaube ich dir. Und ich möchte es herausfinden.« Er drückte seine Hände für einen Moment gegen den Kopf. »Glaubst du denn, dass ich mit diesen Träumen leben kann?«
»Sie werden irgendwann aufhören«, erklärte Maria lahm.
»Nein, das werden sie nicht. Sie hören niemals auf, wenn ich nicht eine bestimmte Pflicht erfüllt habe.« Er ballte die auf dem Tisch liegenden Hände zu Fäusten. »So bin ich gezwungen worden, diese Pflicht zu erfüllen. Alles andere kannst du vergessen, Maria. Ich muss es tun, und ich werde es tun.«
Maria Wienand nickte, und es sah traurig aus. In ihren dunklen Augen blitzten Tränen. »Bisher ist unser Leben völlig normal abgelaufen«, sagte sie, und ihre Stimme klang erstickt. »Warum passiert das jetzt? Was hast du getan?«
»Nichts.«
»Das glaube ich ja auch.« Wieder war ihrer Stimme die Qual anzuhören, »aber es muss etwas geschehen sein, von dem wir beide keine Ahnung haben.«
Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sehr richtig, Maria. Und das will ich herausfinden.«
»Hast du Angst?«
»Ja.«
»Trotzdem...«
»Bitte nicht«, unterbrach er sie, »du kannst sagen, was du willst, Maria, und ich gebe auch zu, dass ich Angst habe. Aber ich muss einfach da durch, sonst werde ich meines Lebens nicht mehr froh. Etwas hat mich gerufen, und dem Ruf muss ich folgen. Ich weiß, dass es auch für dich furchtbar ist, aber ich kann es nicht ändern. Möglicherweise sieht heute Abend alles ganz anders aus.«
»Das können wir nur hoffen.«
»Ja.«
»Möchtest du noch etwas essen?«
»Nein, nur das nicht. Es würde mir im Halse stecken bleiben. Ich werde gleich losfahren.«
»Nimmst du den Astra?«
»Ja.«.
»Schaffst du das auch?«
»Warum sollte ich es nicht schaffen?«
Maria zuckte die Achseln. »Du hast davon gesprochen, dass du abgelenkt bist, zu sehr abgelenkt. Da ist es nicht einfach, sich auf das Fahren zu konzentrieren.«
»Die Strecke schaffe ich schon.«
»Gut.«
Da sie nichts mehr sagte, stand Ernst Wienand auf. Er erhob sich mit einer schwerfälligen Bewegung. Es war ihm anzusehen, dass es ihm nicht gut ging. Sein sonst so gesund wirkendes Gesicht sah eingefallen aus. Die Lippen waren blass, der Blick flackernd, und wieder bewegte er unruhig seine Hände.
Er ging mit kleinen Schritten auf seine Frau zu. Maria erhob sich ebenfalls. Sie wusste, was ihrem Mann jetzt gut tat, und deshalb umarmte sie ihn. »Gib auf dich Acht, Ernst, wir brauchen dich. Wir brauchen dich verdammt intensiv.«
»Ich weiß...«
Sie unternahm einen letzten Versuch, denn sie hatte das Zittern seines Körpers bemerkt. »Soll ich dich doch fahren?«
»Und dann?«
»Bleibe ich vor dem Friedhof. Am Haupteingang gibt es Parkplätze. Ich stelle den Astra dort ab und warte auf dich. Bitte, tu mir den Gefallen.«
Ernst Wienand kämpfte mit sich. Er wollte seine Frau nicht in seine Probleme mit hineinziehen. Andererseits war es vielleicht besser, wenn er nachgab, und
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