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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Schlußfolgerungen vor ihr auszubreiten. »Das System, wie ich es mir vorstelle, ist dermaßen unglaublich und entsetzlich ... Haben Sie die Karteikarte von Gomun?«
    Schwester Pascale kramte in einer eisernen Lade, die auf dem Tisch stand, und nach wenigen Sekunden reichte sie mir eine gefaltete Karte, die ich beim Licht der Taschenlampe las. Gomuns Name, ihr Alter, ihr Heimatdorf, ihre Größe und ihr Gewicht waren darauf verzeichnet. Es folgten etliche Zahlenreihen mit Kommentaren: die jeweiligen Zeitpunkte, zu denen eine bestimmte Maßnahme, eine medizinische
    Versorgung wie Impfung und ähnliches durchgeführt worden waren. Mein Herz krampfte sich zusammen beim Anblick dieser geringfügigen Ereignisse, die das durchaus gewöhnliche Schicksal eines kleinen Mädchens aus dem Dschungel kennzeichneten. Am Ende der Karte schließlich entdeckte ich, was ich suchte, einen Computerausdruck in winziger Schrift - Gomuns Gewebetypisierung: >HLA-Typ AW19,3 - 637,5<. Ein Schauder überlief mich. Ohne Zweifel hatten diese Chiffren die junge Aka das Leben gekostet.
    »Louis, antworten Sie mir: Haben diese Analysen eine Rolle bei dem Mord an dem Mädchen gespielt?«
    »Es ist noch zu früh, um das mit Bestimmtheit zu sagen. Zu früh .«
    Schwester Pascale fixierte mich mit ihren blitzenden Augen, scharf wie Stecknadelköpfe. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich, daß sie endlich die Grausamkeit und Niedertracht des Systems begriffen hatte. Ihre Lippen zuckten nervös.
    »Das ist unmöglich . das kann nicht sein . « »Beruhigen Sie sich. Noch ist nichts sicher, und ich ...« »Nein, seien Sie still. Das kann doch nicht sein ...« Rückwärts tastete ich mich bis zur Tür und rannte dann durch den Regen davon, zurück zum Lager. Meine Gefährten saßen rund ums Feuer beim Abendessen, unter dem Laubdach schwebte der Geruch von Maniok. Sie luden mich ein, mich zu ihnen zu setzen, aber ich befahl den Aufbruch. Auf der Stelle. Dieser Befehl war eine Lästerung, ein grober und rücksichtsloser Verstoß gegen ihre Überzeugungen, das war mir klar. Die großen Schwarzen haben panische Angst vor der Dunkelheit. Aber mein Tonfall, mein Gesichtsausdruck duldeten keine Auflehnung, und so gehorchten Beckes und die anderen - freilich sehr widerwillig. Fassungslos fragte der Führer: »Wohin gehen wir denn, Chef?«
    »Zu Kiefer. Zur Sicamine. Ich will diesen Tschechen noch vor dem Morgengrauen erwischen.«

41
     
    Wir marschierten die ganze Nacht, und gegen vier Uhr morgens waren wir in der Nähe von Kiefers Diamantenminen. Ich beschloß, bis zum Tagesanbruch zu warten. Wir waren alle erschöpft und durchweicht bis auf die Knochen. Ohne uns erst die Mühe zu machen, einen Schutz vor dem Regen zu suchen, legten wir uns am Wegrand nieder und schliefen ein, zusammengekrümmt, den Kopf zwischen den Schultern. Ich spürte einen Schlaf auf mich herabfallen, wie ich ihn noch nie erlebt hatte - wie eine Keule, ein schwarzer Blitz, der mich niederstreckte und vernichtete und mich liegenließ wie in einem tiefen Bett aus Asche.
    Aber schon eine Stunde später war ich wieder wach und stand auf, die anderen schliefen noch. Allein machte ich mich auf den Weg zu den Minen. Ich brauchte nur einer alten Piste zu folgen, die einst die Diamantenwäscher angelegt hatten: jetzt wurde der Pfad überwuchert von einem Dickicht aus Bäumen, Büschen und Lianen, die lichte Schnörkel über ihm errichteten, belaubte Gorgonenhäupter und Fresken aus Wurzelwerk. Endlich aber verbreiterte sich der Weg. Ich nahm meine Glock aus dem Holster, prüfte das Magazin und steckte die Waffe griffbereit in den Gürtel.
    Ein Häuflein von Männern stand bis über die Knie in einem langgestreckten Sumpfgebiet. Mit bloßen Händen gruben sie im Boden und wuschen die Erde mit Hilfe eines breiten Siebs aus. Eine mühselige Arbeit, die in Feuchtigkeit und Gestank verrichtet werden mußte und unendlich viel Geduld forderte. Von Morgengrauen an waren die Diamantenwäscher bei der Arbeit, mit müdem Blick und trägen Bewegungen. In ihren dunklen Augen stand nichts als Erschöpfung und Stumpfsinn. Ein paar husteten und spien den Auswurf ins schwarze Wasser;
    andere zitterten und klapperten mit den Zähnen von der beständigen Nässe. Über ihnen dehnte sich das hohe Gewölbe des Blätterdachs wie eine Kathedrale und war erfüllt von den Schreien und dem Flügelflattern der Vögel. Das goldene Licht des Morgens stieg höher, wurde zusehends stärker, setzte bald die äußeren Ränder jedes

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