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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Neonlampen.
    Hinter dem Tor setzte der Korridor sich fort. Die himmelblaue Farbe hatte für alles herhalten müssen: die Gitterstäbe vor den schmalen Fenstern, die Wände bis auf halbe Höhe, die Schlösser, die Metallschilder ... Das Tageslicht drang hier nur mühsam ein, und so brannte das bleiche Neonlicht das ganze Jahr hindurch, Tag und Nacht. Wir folgten den Wärterinnen. Eine vollkommene Stille herrschte hier, schwer und drückend wie in großer Tiefe.
    Am Ende des Flurs mußte man nach rechts abbiegen und ein weiteres Schloß aufsperren. Ich trat durch eine Tür, deren obere Hälfte verglast war. Die Gesichter von Frauen tauchten vor mir auf: sie arbeiteten an kleinen Nähmaschinen, und als ich eintrat, hefteten sich alle Augen auf mich. Auch ich sah sie eine Weile an, bevor ich den Blick senkte und weiterging. Ohne mir dessen bewußt zu sein, war ich stehengeblieben, um die Gefangenen zu mustern, ihnen ihre Vergehen vom Gesicht abzulesen, als wären sie gebrandmarkt mit einem besonderen Zeichen wie einem Geburtsmal. Ich durchquerte noch mehrere Räume, in denen die Frauen jeweils anderen Beschäftigungen nachgingen - Informatik, Töpferei, Lederarbeiten .
    Wir gingen weiter. Durch die flachen Gitterstäbe, von denen die Farbe abblätterte, sah ich einen Flecken Himmel, trüb und grau. Schwärzliche Wände umgaben einen offenen Hof mit rissigem Asphaltboden, durch den ein Volleyballnetz gespannt war, und der bleierne Himmel darüber wirkte wie eine zusätzliche Mauer. Frauen spazierten dort auf und ab, sie gingen Arm in Arm, rauchend.
    Und wieder hüllten ihre Blicke mich ein. Die Augen von wunden, erniedrigten, gequälten Wesen. Tiefe, dunkle Augen, in denen die Schärfe einer Sehnsucht brannte, gemischt mit Haß. »Gehen wir weiter«, sagte eine der Wärterinnen. Itzhak Delter zog mich am Arm. Wieder wurden mit rasselnden Schlüsselbünden Schlösser aufgesperrt.
    Endlich erreichten wir das Besucherzimmer. Es war ein großer Raum, der noch düsterer und noch schmutziger war als die bisherigen, der Länge nach in zwei Hälften geteilt durch eine Wand aus einzelnen Abteilen mit Fensterscheiben, deren hölzerne Rahmen und Gesimse in derselben Babyfarbe gestrichen waren wie alles andere. Der Architekt des Gefängnisses hatte diese zarte Note auf der fabrikhallenartigen Verarbeitung sicherlich sehr subtil gefunden.
    Odette Willemsen wandte sich zu mir um. »Dieser Besuch ist eine Ausnahme, die wir Ihnen gewähren, Monsieur Antioche, ich sage es ihnen noch einmal«, schärfte sie mir ein. »Sarah Gabbor ist eine gefährliche Frau. Seien Sie ja vorsichtig.«
    Mit einer Bewegung des Kinns deutete sie mir die Richtung an. Allein ging ich an den Abteilen entlang, vorbei an lauter leeren Boxen. Mein Herz schlug heftiger, je weiter ich kam. Plötzlich passierte ich einen Schatten. Ich machte kehrt und hatte das Gefühl, daß meine Beine unter mir nachgäben. Ich ließ mich auf den Stuhl vor der Glasscheibe fallen. Auf der anderen Seite saß Sarah, reglos, und starrte mich mit verschlossener Miene an.

49
     
    Meine Kibbuznik trug ihr Haar jetzt kurz: die blonde Mähne hatte sich in einen hübschen Pagenkopf verwandelt, glatt und adrett. Ihre Haut hatte an Bräune verloren und das Licht der Neonlampen ließ sie noch bleicher erscheinen. Aber ihre Wangenknochen waren markant wie zuvor und waren wie je ein trotziger Widerpart zur sanften Schönheit ihrer Augen. Das war ganz sie, meine kleine Wilde, großartig und zäh, wie ich sie kennengelernt hatte damals, inmitten der Störche.
    Sie ergriff den Hörer der Gegensprechanlage. »Du siehst verdammt mies aus, Louis«, sagte sie.
    »Und du wunderschön, Sarah.«
    »Woher hast du die Narbe im Gesicht?«
    »Ein Andenken aus Israel.«
    Sarah zuckte die Achseln. »Das hast du davon, daß du deine Nase überall reinstecken mußt.«
    Sie trug ein weites blaues Hemd mit offenen Ärmeln. Ich hätte sie küssen wollen, mit den Lippen den Umrissen ihres Körpers folgen, diesen herben und süßen Linien, und sie verschlingen. Eine Zeitlang schwiegen wir beide. Dann fragte ich: »Wie geht’s dir, Sarah?«
    »Geht schon.«
    »Ich freu’ mich sehr, dich zu sehen.«
    »Mich sehen nennst du das! Na ja - besonders wirklichkeitsnah warst du noch nie .«
    Ich fuhr mit der Hand unter dem Gesims entlang, um mich zu vergewissern, daß es keine versteckten Mikrofone gab.
    »Erzähl mir, was passiert ist, seitdem du aus Bet She’an verschwunden bist, Sarah.«
    »Bist du gekommen, um mich

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