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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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technologische Waffe oder ein Mittel zur Unterdrückung.
    Sie erzählte mir von ihrem Leben im Kibbuz, von der harten körperlichen Arbeit, den gemeinsamen Mahlzeiten, den Versammlungen am Samstagabend, um Entscheidungen zu treffen, die jeden angehen. Von diesem Kollektivdasein, in dem jeder Tag wie der vergangene und vor allem wie der kommende war, ohne Aussicht auf Veränderung. Sie sprach von der Eifersucht, der Langeweile, der dumpfen Scheinheiligkeit des Gemeinschaftslebens. Sarah war krank vor Einsamkeit.
    Gleichzeitig aber rühmte sie die Effizienz der landwirtschaftlichen Methoden, sprach von ihren Großeltern, diesen Pionieren sephardischer Abstammung und Begründern der ersten Kibbuzim nach dem Krieg. Sie sprach vom Mut ihrer Eltern, die sich zu Tode gearbeitet hatten, von ihrer Inbrunst, ihrem eisernen Willen. In diesen Augenblicken kam sie mir vor, als kämpfte in ihr die Jüdin gegen die Frau - das Ideal gegen die Individualität. Und zur Unterstreichung aller dieser Gedanken, die in ihr Gärten, fuhren ihre langen Hände mit abgehackten Gesten durch die milde Abendluft.
    Später stellte sie mir Fragen über meine Beschäftigung, meine Vergangenheit, mein Pariser Leben. Ich erwähnte kurz meine langen Studienjahre und sagte, ich befaßte mich seither nur noch mit Ornithologie. Ich beschrieb ihr meine Reise und wiederholte meinen Wunsch, den Durchzug der Störche durch Israel zu beobachten. Diese fixe Idee rief bei ihr kein Erstaunen hervor: die Kibbuzim von Bet She’an sind eine Anlaufstelle für zahlreiche birdivatchers, Vogelfreunde aus ganz Europa und Amerika, die sich während der Migrationszeiten hier niederlassen und, bewaffnet mit Fernrohr, Fernglas und Teleobjektiv, ihre Tage mit der Beobachtung unerreichbarer Flüge zubringen.
    Es schlug elf. Endlich faßte ich Mut und brachte Idos Tod zur Sprache. Sarah heftete einen eisigen Blick auf mich, dann sagte sie mit tonloser Stimme: »Ido wurde vor vier Monaten umgebracht. Ermordet, während er im Sumpf die Störche versorgte. Araber haben ihn überfallen. An einen Baum gefesselt und gefoltert. Sie schlugen ihn mit Steinen ins Gesicht und zermalmten ihm die Kiefer, seine Kehle war voller Knochen- und Zahnsplitter. Außerdem brachen sie ihm die Finger und die Knöchel. Sie zogen ihn aus und zerstückelten ihn mit einer Schafschermaschine. Als die Leiche gefunden wurde, war nur noch die Gesichtshaut übrig, und die sah aus wie eine falsch aufgesetzte Maske. Die Eingeweide hingen ihm bis auf die Füße. Die Vögel hatten schon angefangen, ihn aufzufressen.«
    Ringsum lag Schweigen, die Nacht war ohne einen Laut.
    »Araber, sagst du. Hat man die Mörder denn gefaßt?«
    »Man glaubt, es waren die vier Araber, von denen ich dir erzählt habe. Die Mörder der Soldaten.«
    »Sind sie verhaftet worden?«
    »Sie sind tot. Auf unserem Land regeln wir unsere Angelegenheiten selbst.«
    »Greifen die Araber öfter Zivilisten an?«
    »Nicht in unserer Gegend. Oder wenn, dann nur aktive Kämpfer, wie die militanten Siedler heute nachmittag.«
    »War Ido ein Militanter?«
    »Überhaupt nicht. Obwohl er sich in der letzten Zeit verändert hatte. Er hatte sich Waffen besorgt, Sturmgewehre, Faustwaffen und merkwürdigerweise auch Schalldämpfer, und blieb ganze Tage mit seinem Arsenal verschwunden. Er ging nicht mehr zu den Teichen. Er war jähzornig geworden, schrecklich reizbar. Er konnte im Handumdrehen in Rage geraten oder stundenlang vor sich hin brüten.«
    »Hat Ido gern im Kibbuz gelebt?«
    Sarah stieß ein bitteres Lachen aus.
    »Ido war nicht wie ich, Louis. Er hat die Fische und die Teiche geliebt, auch die Sümpfe, die Störche. Oft ist er spät nachts erst nach Hause gekommen, völlig verdreckt, und hat sich mit ein paar zerrupften Vögeln in seine Klinik zurückgezogen.« Wieder lachte sie kurz auf. »Aber mich hat er noch mehr geliebt. Und er suchte nach einer Möglichkeit, um uns beide aus dieser beschissenen Hölle rauszubringen.«
    Sarah verharrte eine Weile stumm, dann zuckte sie die Schultern, stand auf und fing an, die Teller und Tassen zusammenzustellen.
    »Eigentlich glaube ich«, begann sie noch einmal, »daß Ido nie weggegangen wäre. Er war hier vollkommen glücklich. Der Himmel, die Störche, außerdem ich. In seinen Augen war das die größte Stärke des Kibbuz: er hatte mich in der Hand.«
    »Was meinst du damit?«
    »Das, was ich gesagt habe: er hatte mich in der Hand.«
    Mit beladenen Armen verschwand Sarah im Haus. Ich half ihr beim

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