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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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»Warten Sie im Kibbuz auf mich, um sechs Uhr. Ich bring’ Sie hin.«
    »Ich kenne den Kibbuz nicht.«
    »Auf dem kleinen Platz. Dort steht ein Brunnen. Die birdwatchers wohnen in dem Viertel.«
    »Vielen Dank ...«
    »Sarah.«
    »Danke, Sarah. Ich heiße Louis. Louis Antioche.«
    »Schalom, Louis.«
    Unter den feindseligen Blicken der beiden Männer ging ich den Weg wieder zurück. Ich lief wie ein Schlafwandler, halb blind von der Sonne und betäubt durch die Nachricht von einem weiteren Mord. Und doch dachte ich in diesem Augenblick nur an eins: an Sarahs sonnenhelles Haar - ein Bild, das in mir brannte wie Feuer.
    Das Klicken des Hahns einer Waffe riß mich aus dem Schlaf, ich war auf dem kleinen Platz des Kibbuz in meinem Wagen eingenickt. Als ich die Augen öffnete, sah ich mich umringt von einer Truppe von Zivilisten, die eine regelrechte Artillerie auf mich gerichtet hielten. Manche waren schwarzbärtige Hünen, andere blond mit rosigen Wangen, die meisten trugen eine Kippa. Sie äugten forschend ins Wageninnere. Untereinander verständigten sie sich auf hebräisch, einer Sprache, die in meinen Ohren sehr orientalisch klang, aber frei von gutturalen Lauten, mich brüllten sie auf englisch an: »Wer bist du? Was willst du hier?« Einer der Hünen schlug mit der Faust auf das Seitenfenster und schrie: »Mach das Fenster auf! Zeig deinen Paß!« Zur Bekräftigung seiner Worte lud er sein Gewehr und legte an. Langsam ließ ich die Scheibe herunter und reichte meinen Paß hinaus. Der Mann riß ihn mir aus der Hand und gab ihn einem seiner Gehilfen weiter, ohne mich aus dem Visier zu lassen. Mein Paß wurde von einer Hand zur nächsten gereicht. Auf einmal aber ertönte eine Stimme, eine Frauenstimme, laut und hart. Die Männer wichen zur Seite, und ich erblickte Sarah, die sich mit den Ellenbogen durch die Riesen drängte, sie schimpfend zurückstieß und mit beiden Händen auf die Gewehrläufe einhieb, wodurch sie Protestgeschrei, Fluchen und Murren auslöste. Sie griff nach meinem Paß und gab ihn mir sofort zurück, ohne währenddessen ihre Beschimpfungen einzustellen. Endlich machten die Männer kehrt und gingen widerwillig und schnaubend davon.
    Sarah drehte sich um und sagte auf französisch: »Die Leute hier sind alle ein bißchen nervös. Vor einer Woche haben vier Araber drei von den Unsrigen in einem Militärlager ganz in der Nähe umgebracht. Im Schlaf mit der Mistgabel erstochen. Kann ich einsteigen?«
    Wir fuhren etwa zehn Minuten. Unterwegs sah ich weitere Fischteiche mit schwärzlichem Wasser zwischen hohen Gräsern, grün wie ein Reisfeld. Auf einmal standen wir am Rand eines weiteren Tals, und ich rieb mir die Augen vor Verblüffung über das Schauspiel, das sich mir bot.
    Ein Sumpf dehnte sich vor uns aus, so weit der Blick reichte, und war gänzlich in Beschlag genommen von den Störchen. Ein Meer weißer Gefieder und roter Schnäbel, das in ständiger Bewegung war, auf und nieder wogte, sich schüttelte, hier und dort aufflog, ineinanderströmte. Es waren Zehntausende. Die Bäume bogen sich unter ihrem Gewicht, und die Tümpel waren nichts als nasse Leiber, gebogene Hälse, wuselnde Aktivität - jeder Vogel stürzte sich voller Gier auf alle greifbare Nahrung. Mit halb ausgebreiteten Flügeln wateten die Störche durchs Wasser, rasch und präzise schossen die Köpfe abwärts und gleich wieder hoch, den erbeuteten Fisch im halboffenen Schnabel. Mit den wohlgenährten, prächtigen Vögeln aus dem
    Elsaß hatten sie nichts mehr gemein: sie waren ausgemergelt, schmutzig und nicht im geringsten daran interessiert, ihr Gefieder zu glätten. Ihnen ging es nur noch um eins: zur rechten Zeit und Stunde Afrika zu erreichen. In wissenschaftlicher Hinsicht stand ich hier vor einem Phänomen, denn die europäischen Ornithologen hatten mir stets versichert, daß Störche nie fischten, sondern sich ausschließlich von Fleisch ernährten.
    In den Fahrrinnen geriet der Wagen ins Rutschen, und wir stiegen aus.
    »Der Storchenkibbuz«, sagte Sarah. »Jeden Tag kommen sie zu Tausenden hierher. Sie müssen Kräfte sammeln, bevor sie die Wüste Negev in Angriff nehmen.«
    Lange beobachtete ich die Vögel durchs Fernglas. Es war unmöglich festzustellen, ob einer von ihnen beringt war. Über uns nahm ich einen Hauch wahr, wie ein Atmen, fein und hartnäckig zugleich. Ich hob die Augen. Mehrere Gruppen von Störchen flogen stetig in niedriger Höhe vorbei, jeder einzelne glitt wie von einem bläulichen Schimmer

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