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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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umhüllt auf seiner Bahn durch die glutheiße Luft. Wir waren mitten im Revier der Störche. Wir setzten uns in eine trockene Grasmulde, Sarah schlang die Arme um die angewinkelten Beine und legte das Kinn auf die Knie. Sie war weniger hübsch, als ich geglaubt hatte. Ihre Gesichtszüge waren hart und kantig und ausgedörrt von der Sonne, wie Steine sprangen die Wangenknochen hervor. Aber ihr Blick erinnerte mich an einen schönen Vogel mit gespreiztem Gefieder, der einem direkt ans Herz greift.
    »Ido kam jeden Abend hierher«, fuhr Sarah fort. »Zu Fuß hat er die Sümpfe durchkämmt, die verletzten und erschöpften Störche aufgesammelt und an Ort und Stelle versorgt oder mit nach Hause genommen. Er hat sich einen eigenen Raum in der Garage dafür eingerichtet. Eine Art Vogelklinik.«
    »Kommen alle Störche hier vorbei?« »Ja, ohne Ausnahme. Sie haben wegen der Fischteiche eigens ihre Route verlegt.«
    »Hat Ido mit Ihnen über das Ausbleiben der Störche im letzten Frühjahr gesprochen?«
    Sarah begann mich auf einmal zu duzen: »Was meinst du damit?«
    »Die Störche waren in diesem Jahr bei ihrer Rückkehr aus Afrika weniger zahlreich als sonst. Das ist Ido sicher aufgefallen.«
    »Er hat mir nichts davon gesagt.«
    Ich fragte mich, ob Ido wie Rajko ein Tagebuch geführt hatte. Und ob auch er für Max Böhm gearbeitet hatte.
    »Du sprichst hervorragend Französisch.«
    »Meine Großeltern sind in deinem Land geboren. Nach dem Krieg wollten sie nicht mehr nach Frankreich zurück. Sie waren die Begründer der Kibbuzim von Bet She’an.«
    »Eine wunderschöne Gegend ist das hier.«
    »Kommt drauf an. Ich hab’ immer hier gelebt, außer während des Studiums in Tel Aviv. Ich spreche Hebräisch, Französisch und Englisch. 1987 habe ich mein Diplom in Physik gemacht. Und das alles, um in diese Scheiße zurückzukommen, um drei Uhr morgens aufzustehen und sechs Tage in der Woche in stinkendem Wasser zu waten.«
    »Willst du fort?«
    »Wie denn? Wir leben hier in einem Gemeinschaftssystem. Jeder verdient dasselbe. Mit anderen Worten: nichts.«
    Sarah blickte hinauf zu den Vögeln, die über den rötlichen Himmel zogen, die Hand vor den Augen, um sie vor dem letzten Feuer der Sonne zu schützen, und sie blitzten wie die Lichtreflexe im Wasser des Brunnens.
    »Bei uns gehört der Storch einer uralten Tradition an. Der Prophet Jeremias sagt in der Bibel, um das Volk Israel zum Aufbruch zu ermahnen:
    Alle kehren zurück auf ihren Weg, wie ein Pferd, das in die Schlacht galoppiert.
    Sogar der Storch am Himmel
    kennt seine Jahreszeit,
    die Turteltaube, die Schwalbe und der Reiher halten sich an die Zeit ihrer Wanderung.«
    »Was bedeutet das?«
    Sarah zuckte die Achseln, ohne den Blick von den Vögeln zu wenden.
    »Das bedeutet, daß ich auch warte, bis meine Zeit gekommen ist«, sagte sie.

17
     
    Das Abendessen verlief in sehr sanfter Stimmung. Sarah hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. Ich dachte an gar nichts mehr, sondern gab mich ganz der Süße dieses unerwarteten Augenblicks hin.
    Wir aßen im Garten ihres Hauses, mit Blick auf die rosafarbenen und purpurroten Wolkenfetzen des Sonnenuntergangs. Sie wurde nicht müde, mir immer wieder neue Pitas anzubieten, diese kleinen runden, flachen Brote, gefüllt mit improvisierten Köstlichkeiten, und ich sagte jedesmal ja, mit vollem Mund. Ich aß wie ein Scheunendrescher - die israelische Küche war wie für mich geschaffen. Fleisch, sagte Sarah, sei sehr teuer, weshalb man sich vorzugsweise von Gemüse und Milchprodukten ernähre. Und vor allem hatte Sarah mir einen wunderbar aromatischen Tee gekocht, chinesisch, grün und unverfälscht.
    Sarah war achtundzwanzig, hatte ungestüme Vorstellungen und zauberhafte Manieren. Sie erzählte mir von Israel, und ihr sanfter Tonfall stand in scharfem Gegensatz zu ihrem Abscheu. Mit dem großen Traum vom Gelobten Land konnte sie nichts anfangen, sie verurteilte die Exzesse des jüdischen Volkes, seine Gier nach Boden, die beharrlich als rechtmäßig verteidigt werde, aber so viele Ungerechtigkeiten nach sich ziehe, soviel Gewalt in einem zerrissenen Land. Sie beschrieb mir den Terror auf beiden Seiten: gebrochene Gliedmaßen der Araber, erdolchte Judenkinder, die Auswüchse der Intifada und die Reaktion der israelischen Soldaten. Sie zeichnete mir auch ein merkwürdiges Bild von Israel. Der jüdische Staat, sagte sie, sei ein regelrechtes Kriegslabor: immer um einen Schritt voraus, um eine neue Abhörmethode, eine

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