Der Flug der Stoerche
Sechshundert-Seiten-Schinken, den ich diagonal überflog. Das Buch triefte von erhabenen Gefühlen, und der Verfasser befleißigte sich ohne jeden Skrupel eines blütenreichen, poetischen Stils, der seinem Thema kaum angemessen war. So las ich Ergüsse wie diesen: >... Bleich waren die Gesichter der Kranken, und ein sanftes, trauriges Leuchten ging von ihnen aus, ein Schimmer in der bitteren und melancholischen Farbe des Schwefels. An jenem Morgen begriff ich, daß diese Kinder alle Blumen waren, kranke Blumen, die zu bewahren und dem Leben zurückzugeben mir oblag . < Und weiter: >Der Monsun nahte. Und mit ihm unweigerlich eine Legion giftiger Ausdünstungen und Krankheiten. Bald würde die Stadt sich mit Röte überziehen und in ihren Straßen der Tod umgehen. Dem Schnitter war es gleich, wo er zuschlug und wie. Und der Anblick menschlichen Leidens würde sich millionenfach über die aufgeweichten Bürgersteige hinziehen, bis an die fiebrigen Grenzen der Menschheit, dorthin, wo die Schwärze des Leibs einer blinden Nacht zurückgegeben wird . < Und etwas später fand ich: >... Khalils Gesicht war scharlachrot. Er hieb die Zähne in die Decke und preßte die Tränen zurück. Er weigerte sich, vor mir zu weinen. Mehr noch, vom Grund seines Stolzes herauf lächelte das Kind mich an. Aber mit einemmal begann der Junge Blut zu speien, und ich wußte, daß dies der Tau war, der mitunter der grenzenlosen Finsternis vorausgeht und den Eintritt des Menschen ins Jenseits begrüßt .<
Ein schrecklicher, zwiespältiger Stil. Obwohl mir diese Sprache, diese Ausdrucksweise tief zuwider waren, ging dennoch eine merkwürdige Faszination davon aus. Doisneau verwandelte das Elend von Kalkutta in Bilder von düsterer Schönheit - ein Vorgehen, das ich als unanständig empfand. Aber seinen Erfolg verdankte das Buch wohl eher dem außerordentlichen Schicksal des französischen Arztes, der - ungeachtet seines Stils - Großartiges geleistet hatte, um das endlose Unglück des indischen Volkes zu lindern. Doisneau ließ nichts aus: das Grauen der Slums, die Millionen Wesen, die wie Ratten in Schlamm und Krankheit lebten, die Entwürdigung derer, die ihr Blut oder ihre Augen verkaufen, um zu überleben .
Wege der Hoffnung war ein manichäistisches Buch: auf der einen Seite das tägliche, unerträgliche Leiden einer riesigen Menschenmasse, auf der anderen Seite die Größe eines einzelnen Mannes, der aufsteht und >Nein!< spricht und dem schmerzensreichen Volk wieder zu Stolz und Ehre verhilft. Die Leser lieben diese Art von Geschichten über die >Würde des Unglücks<. Ich schlug das Buch zu. Neues hatte ich nicht daraus erfahren - nur daß Monde Unique und sein Begründer wahrlich ohne Fehl und Tadel waren.
Gegen Mitternacht landete die Maschine auf dem Flughafen Charles-de-Gaulle. Ich ging durch den Zoll hinaus in die helle Spätsommernacht und nahm mir ein Taxi. Ich war wieder zu Hause.
28
Es war fast ein Uhr morgens, als ich meine Wohnung betrat. Ich stolperte über einen Stapel Post hinter der Tür, hob ihn auf und sah mir jeden einzelnen Umschlag an, um sicherzugehen, daß während meiner Abwesenheit niemand hier eingedrungen war. Dann ging ich in mein Arbeitszimmer und rief Dumaz an, der mir unmittelbar darauf ein fast sechs Seiten langes Fax schickte.
Ich las es in einem Zug durch, ohne mich erst zu setzen. Zunächst schrieb Dumaz, er sei in Antwerpen auf Max Böhms Spur gestoßen. In sämtlichen Diamantenbörsen hatte er Böhms Bild hergezeigt; mehrere Personen erkannten ihn und erinnerten sich genau an seine regelmäßigen Besuche. Seit 1979 war der Schweizer Vogelkundler alljährlich immer zur selben Zeit aufgetaucht, um seine Diamanten zu verkaufen: pünktlich zwischen März und April. Manche Händler hatten schon Witze darüber gerissen und ihn gefragt, ob er womöglich einen Diamantenbaum besitze, der jedes Frühjahr Früchte trage.
Der zweite Abschnitt des Briefs war noch interessanter. Vor seiner Abreise hatte Dumaz bei der CSO, der in London ansässigen riesigen Einkaufszentrale für Rohdiamanten, die achtzig bis fünfundachtzig Prozent der weltweiten Bruttoproduktion an Diamanten kontrolliert, um ein vollständiges Verzeichnis der Geschäftsführer, Ingenieure und Geologen angesucht, die von 1969 bis heute in den afrikanischen Minen, im Osten wie im Westen, gearbeitet hatten. Bei seiner Rückkehr hatte er gründlich die lange Liste studiert und neben Max Böhm zwei weitere Namen entdeckt, die er bereits
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