Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
zurücklehnen und zusehen, wie John sich unmöglich machte – und schon konnte er darauf warten, dass Charmaine zu ihm zurückkam. Und wenn er ihr schließlich eine Affäre ohne weitere Verpflichtungen anbot, so hatte John, ohne es zu ahnen, alle Probleme seines Bruders gelöst – seine Angst vor der Liebe und ihren Verwicklungen eingeschlossen.
5
Freitag, 29. September 1837
Charmaines Lider zuckten einige Male, bevor sie endgültig die Augen öffnete. Es dauerte fast eine Minute, bis sie begriff, wo sie sich befand und warum sie in Pierres Bett lag. Gegen drei Uhr in der Nacht war ein mächtiger Ast der Eiche durch die verbarrikadierten Fenstertüren in ihr Schlafzimmer gekracht und hatte das ganze Haus alarmiert. Innerhalb von Minuten waren alle in ihrem Zimmer versammelt: die Kinder, Paul, John und George – und alle redeten durcheinander und überlegten, was zu tun war. Sogar die Hausmädchen lungerten neugierig im Flur herum, bis Agatha auf der Bildfläche erschien und sie verscheuchte.
John zog eine Grimasse. »Warum verschwinden Sie nicht auch einfach, Auntie?«
»Ich soll verschwinden?«
»Genau das. Im Augenblick nur aus dem Zimmer, morgen dann aus dem Haus und zuletzt von Charmantes – und zwar für immer.«
»Das geht wirklich zu weit!« Agatha spitzte die Lippen und rannte protestierend aus dem Zimmer.
Charmaine musste sich mühsam das Kichern verkneifen und zog sich mit den Kindern ins Nachbarzimmer zurück. Und während Paul und John noch unter brüderlichen Scherzen den großen Ast auf die Veranda bugsierten, schlummerte sie bereits wieder ein.
Als sie erwachte, war der Sturm vorüber und alles war ruhig. Nur ein paar schmale Silberstreifen drangen durch die vernagelten Türen ins Zimmer. Rasch schlüpfte sie noch einmal unter die Decke und schloss die Augen. Zum Aufstehen war es noch zu früh, die Mädchen schliefen, und Pierre …
Entsetzt schoss sie in die Höhe. Pierre war nicht da, und die Tür zum Korridor war nur angelehnt! Während sie in den Morgenmantel schlüpfte, rannte sie bereits aus dem Zimmer. Im Flur empfing sie fast völlige Dunkelheit. Nur durch die vernagelten Fenster an der Treppe drang etwas Helligkeit herein, und durch die angelehnte Tür von Johns Zimmer fiel ein schmaler Lichtstreifen quer über den Boden. Geräuschlos trat Charmaine näher, bis ein Kichern ihren Verdacht bestärkte.
»Pierre, bist du dort drinnen?«
Es dauerte einen Moment – und dann erschien ein Zwerg mit einem Bart aus Rasierschaum im Türspalt und strahlte sie an.
»Oh, Pierre! Was hast du nur wieder angestellt?«
Als sie sich hinunterbeugte, um den Jungen hochzuheben, küsste sie der Zwerg, woraufhin der halbe Bart auf ihrer Wange klebte und sie als Mitverschwörerin markiert war. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Charmaines Blick glitt in die Höhe – von den Strümpfen über eine Hose und eine nackte Brust bis zu einem männlichen Gesicht, das unter weißem Schaum auf sie herabgrinste.
»Was kann ich für Sie tun, my charm ?«
Rasch richtete sie sich auf. »Ich habe Pierre gesucht.«
»Er hat mich besucht, und nun vertreiben wir uns die Zeit, indem ich ihm das Rasieren beibringe.«
»Ist er nicht ein bisschen jung dafür?«
»Das kann man gar nicht früh genug lernen.« Er trat an den Waschtisch, nahm die Klinge in die Hand und begegnete ihrem Blick im Spiegel. »Ein ermüdendes Geschäft.«
Pierre kletterte auf den Stuhl neben dem Waschtisch und verfolgte gebannt, wie die Klinge durch den Schaum glitt.
»Bringen Sie ihn bitte ins Kinderzimmer, wenn Sie fertig sind?«
»Aber selbstverständlich«, sagte John und zwinkerte dem Jungen zu.
Fünf Minuten später war Charmaine wieder da. Inzwischen unterwies John auch seine Zwillingsschwestern, die sich den Spaß nicht entgehen lassen wollten.
»Ich will es aber lernen!«, verlangte Yvette.
»Aber Mädchen rasieren sich doch nicht.« Und dann: »Da sind Sie ja wieder, Miss Ryan. Darf es auch eine Lektion sein?«
»Nicht im Rasieren. Vielen Dank.«
Er lachte leise in sich hinein und brummelte, dass es dann ja noch Hoffnung für ihn gäbe.
Charmaine begriff die Bedeutung erst, als sein Blick zum Bett wanderte, und prompt röteten sich ihre Wangen.
»Warum rasierst du dich eigentlich?«, wollte Jeannette wissen.
»Weil er keinen Bart mag«, sagte Pierre.
»Genau.« John nickte. Und während er mit der Klinge über seine Wange fuhr und dabei das Gesicht verzog, klang seine Stimme seltsam verzerrt. »Wenn ich
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