Der Fluß
dürfen, aber als sie die Initiative übernimmt, tue ich es.
»Mein Junge«, sagt sie, so wie Marianne immer sagt. Es ist, als würden wir uns schon lange kennen.
Ich helfe ihr aus dem Mantel, sehe, daß sie körperlich schwach ist, dünn ist sie auch. Alle in dieser Familie sind zu dünn, denke ich. Aber ich sehe, daß sie schön gewesen ist. Ausgesprochen schön. Und sie ist immer noch schön,mit den Lebenslinien im Gesicht und den unübersehbaren, grünen Augen. Sie hat etwas Asketisches so ohne Formen, Brüste, Hüften. Keine Marilyn Monroe. Mehr die Venus von Milo.
Ich habe nichts anzubieten außer einem Glas Rotwein, wie sie am Telefon gesagt hat: »Nur ein Glas Rotwein, mein Junge. Ich möchte dich nicht in deiner Arbeit stören.«
Und obwohl ich versichere, daß sie mich nicht stört, daß ich sie gerne treffen möchte, legt sie Wert darauf, daß es ein kurzer Besuch wird.
Wir setzen uns, haben bereits am Telefon das Du eingeführt. Sie wollte nicht von mir gesiezt werden. Ich verstehe sie jetzt, als ich sie sehe, besser. Sie taugt nicht für die alten Höflichkeitsformen. Sie ist genauso radikal wie die Tochter, ist sicher Mitglied beim Verein Sozialistischer Ärzte. Es ist lange her, daß sie im Elvefaret war. Sie blickt sich um.
»Nichts hat sich verändert«, stellt sie fest.
Dann mustert sie mich. Ich spüre den Blick der Psychiaterin. Ein geschulter Blick.
»Du siehst älter aus, als ich dachte«, sagt sie. »Das ist gut, jedenfalls für Marianne. Als sie am Telefon von dir erzählte, hatte ich den Eindruck, sie würde sich in ein umgekehrtes Lolita-Konzept verstricken. Meine Tochter ist nun mal ziemlich leidenschaftlich. Ihr wäre es zuzutrauen, sich einen der jungen Sportler zu angeln, die nur aus Muskeln und Potenz bestehen. Obwohl, für das Oberflächliche war Marianne nie zu begeistern. Vielleicht hat sie deshalb jetzt so große Probleme.«
»Ich wußte nichts von diesen Problemen«, sage ich.
»Nein. Sie hat wahrlich viel Energie darauf verwendet, daß niemand etwas merkt.«
Sie hebt das Glas, will mit mir anstoßen. Auch ich proste ihrzu. Ihr Besuch tut mir gut. Ich fühle mich nicht mehr allein mit meinen Ängsten.
»Ich bin zu dir gekommen, um dich zu beruhigen, mein Junge. Wir wissen inzwischen einiges mehr über Depressionen und ihre Behandlung als früher. Und wir wissen viel über Marianne. Diese furchtbare Geschichte, die du erlebt hast, kam eigentlich nicht unerwartet. Nachdem Bror und Anja tot waren, habe ich jeden Tag so etwas befürchtet, denn ich wußte, daß sie sich in einer extrem anfälligen Situation befand. Daß sie sich so schnell an dich gebunden hat, war nicht überraschend. Ihr Lebenswille war immer sehr stark ausgeprägt. Das hört sich verrückt an, aber suizidgefährdet und gleichzeitig gierig nach Leben sein ist kein Widerspruch. Mariannes Problem besteht eher darin, daß sie so diszipliniert und gewissenhaft in ihrer Arbeit ist, daß es ihr gelungen ist, ihre dunklen Seiten vor allen zu verstecken, außer vor sich selbst. Und das ist gefährlich. Deshalb ist sie jetzt in der Klinik, wo sie professionelle Hilfe bekommt.« »Werden sie ihr wirklich helfen können?«
»Ja, geholfen wird ihr sicher. Aber wie weit diese Hilfe reicht, das kann man jetzt noch nicht sagen. Du wirst keinen Psychiater finden, der es wagt, einen psychisch kranken Menschen für völlig gesund zu erklären. Es besteht immer die Möglichkeit eines Rückfalls. Wir müssen als Fachleute lernen, die Krankheit zu respektieren, sie ernst zu nehmen, auf die Signale zu hören, die sie aussendet. Das braucht Zeit. Und deshalb bin ich zu dir gekommen.«
»Um mich zu warnen?«
Sie lächelt. »Nein, mein Junge, aber um dich zu bitten, auf dein Herz zu hören.«
»Auf mein Herz?«
»Ja. Hast du für Marianne genügend Platz in deinem Herzen?«
»Ja«, sage ich.
»Aber du hast auch Anja geliebt, oder?«
»Das ist etwas anderes.«
Ida Marie Liljerot nickt. »Das verstehe ich«, sagt sie. »Und ich habe nicht die Absicht, in deinem Gefühlsleben herumzustochern. Aber ich lebe jetzt schon so lange und habe gesehen, wie sich junge Menschen aneinander binden, ohne genau überlegt zu haben, ob sie das wirklich wollen. Kann ich jetzt etwas direkter mit dir reden?«
»Natürlich«, sage ich. Sie kann sagen, was sie will, solange ich weiß, daß sie Mariannes Mutter ist, daß so viel Marianne in ihr ist.
Sie überlegt kurz, als ginge es um eine schwierige Diagnose. Dann sieht sie mich mit ihren
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