Der Fluß
ihr düsteres, schwarzes, immer wiederkehrendes Projekt der Selbstvernichtung zu verwirklichen.«
»Das wird nie geschehen!« sage ich aufgebracht. Und ich merke, daß ich wütend bin, nicht auf Ida Marie Liljerot, sondern auf mich, weil ich hilflos in diesem leeren Haus hocke und nichts tun kann, um Mariannes Lebenssituation zu verbessern, als morgen zu ihrem Geburtstag mit einem Stück Kuchen anzureisen.
Ida Marie Liljerot, mustert mich aufmerksam.
»Deine Heftigkeit gefällt mir«, sagt sie. »Aber Heftigkeit allein genügt nicht. Du brauchst Ausdauer, Durchhaltevermögen. Marianne wird vermutlich noch längere Zeit krank sein. Versteh mich nicht falsch. Sie hat kein böses Wort über dich gesagt. Ich glaube, daß du in diesen Monaten, die ihr zusammen wart, einen sehr guten Einfluß auf sie gehabt hast. Ich verstehe, daß ihr in vieler Hinsicht miteinander zurechtkommt. Dazu beglückwünsche ich euch. Aber ich habe eine solche Angst um sie. Verstehst du das?«
Ich schenke ihr Wein nach.
»Gut, noch ein Glas«, sagt sie. »Aber dann lasse ich dich in Ruhe.«
Ich gieße mir ebenfalls nach.
»Ich bin froh, daß du gekommen bist«, sage ich.
»Du solltest nicht froh sein«, sagt sie. »Du solltest verunsichert sein.«
»Warum das?«
»Weil ich dich gewissermaßen zwinge, eine Entscheidung zu treffen. Und dich zugleich als Mutter anflehe: Spiele nicht mit Marianne. Wenn du es aber ernst mit ihr meinst, muß dir klar sein, was das bedeutet.«
»Was bedeutet das?«
»Das kann bedeuten, daß du dein Debütkonzert absagen mußt, weil dich Marianne braucht. Das kann bedeuten, daß du in einem wichtigen Abschnitt deines Lebens und deiner Karriere deine Bedürfnisse zugunsten eines anderen Menschen hintanstellen mußt. Es handelt sich nicht mehr um eine gleichwertige Partnerschaft. Es handelt sich darum, die Verantwortung für einen kranken Menschen zu übernehmen. Es ist eine Entscheidung auf Leben und Tod. Bist du dazu bereit?«
»Du redest, als ginge es hier nur um meine Gefühle. Aber weißt du denn, ob sie mich überhaupt will?« sage ich.
Ida Marie Liljerot wirft mir einen strengen und zugleich liebevollen Blick zu.
»Sie will dich«, sagt sie. »Nichts von dem, was sie bisher zu mir gesagt hat, deutet auf etwas anderes hin.«
»Dann gibt es nichts mehr zu reden«, sage ich. »Du kannst dich auf mich verlassen. Zuviel ist passiert. Vielleicht hätte ich ein einfacheres Leben wählen können. Obwohl, hätte ich das? Kann die Liebe wählen? Ich weiß nur, daß ich nicht ohne sie leben will.«
Ida Marie Liljerot steht von der Ledercouch auf. »Du bist in Ordnung, Aksel. Grüße sie von mir.«
Marianne in Weiß
Es ist Mariannes Geburtstag, kurz vor meinem. Wir sind beide Skorpion. Eine komplizierte Kombination.
Ich wache am Morgen in Anjas Bett auf und sehe, daß es schneit. Ich stehe auf, gehe ins Bad, bin in guter Stimmung. Heute werde ich sie wiedersehen. Heute darf ich sie besuchen. Heute werde ich ihre Ärztin kennenlernen. Heute werde ich erfahren, wie es ihr geht.
Ich sitze in der Küche und schaue aus dem Fenster. Ein Traumtag. Schnee im November. Vielleicht bleibt er diesmal liegen?
Ich fahre mit der Straßenbahn in die Stadt, kaufe Kuchen, Marzipankuchen bei Halvorsen, der besten Konditorei der Stadt. Ich gehe auch ins Vinmonopol und kaufe eine Flasche teuren Champagner. Sie soll wissen, daß ich es ernst meine. Dann gehe ich zum Westbahnhof und kaufe mir eine Fahrkarte. Die Klinik liegt etwas über eine Stunde von Oslo entfernt. Ich hätte nie gedacht, einmal dorthin zu kommen oder dort jemanden zu besuchen, der mir nahesteht.
Der Zug bringt mich hinaus aus der Stadt. Ich sehe Höfe, Flußläufe, vereinzelte Häusergruppen. Die Sinneseindrückesind überwältigend, denn ich bin jetzt so lange nicht aus dem Haus gekommen. Ich habe nur Tag für Tag die grünen Tannen angestarrt, geübt und gegrübelt. Ich kenne inzwischen jeden Tannenzapfen an den Bäumen.
An einem kleinen Bahnhof steige ich aus. Ein Bus wartet. Ich fahre hinauf in die Winterpracht. Die Welt erscheint neu und voller Hoffnung. Ja, der Schnee ist liegengeblieben. Die Sonne spitzt zwischen den Wolken hervor. Mariannes sechsunddreißigster Geburtstag ist ein strahlender Tag.
Die Klinik liegt in einem bewaldeten Areal. Der Bus hält auf dem Parkplatz. Ich sehe die niedrigen Holzgebäude. In einem Fenster sehe ich für einen Moment ein Gesicht. Ist sie das? Hat sie mich gesehen? Ich gehe hinein zur Rezeption und melde mich an.
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