Der Fluß
Lynge läßt mich op. 110 auf Anjas Flügel spielen. Sie will, daß ich die ganzeSonate spiele, wie im Konzert. Still sitzt sie da und hört zu. Ich merke und habe es in den letzten Wochen gemerkt, daß mir diese Musik jetzt entspricht. Daß es einen Anknüpfungspunkt zu meinem Gefühlszustand gibt. Das Fragmentarische gekoppelt mit dem tief Ernsten. Das Zerstreute gekoppelt mit dem Konsistenten. Und nicht zuletzt, das Konsequente.
Aber ich habe Probleme mit der Konzentration. Und ich tendiere dazu, in den schönen Partien zu sentimental zu werden. Es ist ja gerade die Dynamik, die Beethovens Meisterschaft in diesen letzten Sonaten zeigt. Plötzlicher Ernst. Plötzlich Schönheit und Ruhe. So wie ich selbst in Träumen versinken kann, mich an eine schöne Episode mit Anja erinnere, um Sekunden später den Ernst des Lebens zu spüren, in eine fast existentielle Verzweiflung zu stürzen.
»Das ist okay«, sagt Selma Lynge. »Aber du hast noch nicht die volle Kontrolle. Du mußt aufpassen, daß du in den schnellen Passagen nicht zu schnell spielst. Das ist nicht Chopin, vergiß das nicht. Vielleicht hast du zuviel Chopin geübt. Hier wird die Tempowahl wieder wichtig. Das Tempo bestimmt fast alles. Das ist wie das Leben selbst. Willst du ein maßloses Leben führen, in dem alles zu schnell geht und du das Gefühl hast, zuwenig Zeit zu haben, egal, was du tust? Oder willst du einen langsameren Rhythmus riskieren und darauf achten, was geschieht, darauf achten, Zeit zur Reflexion zu haben? Nur ausnahmsweise hat Beethoven Wert darauf gelegt, daß man schnell spielt. In allen seinen Allegro-Sätzen besteht die Möglichkeit, sie langsamer zu spielen, als es die Tempobezeichnung Allegro vorsieht. Das ist faszinierend. Spiel die Fuge noch einmal. Und nimm dir diesmal mehr Zeit.«
Ich spiele die Fuge für Selma Lynge. Ich spiele sie langsamer. Es ist eine Unterrichtsstunde. Ein Arbeitstreffen. Alles Gefühlsmäßige verschwindet. Sie ist die professionellePädagogin. Ich bin der gewissenhafte Schüler. Die unangenehme Situation zu Beginn haben wir vergessen. Wir sind auf die Musik konzentriert. Beethoven, op. 110. Die vorletzte Klaviersonate.
Weihnachten im Elvefaret
Sie kommt heim. Ein Pfleger bringt sie mit dem Auto. Ich habe sie einige Wochen nicht gesehen und bin schockiert, wie geschwächt sie wirkt. Blaß und müde. Der traurige, gestreßte Punkt in ihren Augen. Kaum daß sie sich auf den Beinen halten kann. Ich dachte, es sei umgekehrt, daß die Behandlung sie gekräftigt hätte. Sie sieht den Schrecken in meinem Gesicht.
»Ich weiß, daß ich schlecht aussehe«, sagt sie und dreht sich eine Zigarette. »Aber das ist eine Konsequenz der Behandlung. Man muß ganz hinunter in den Keller und ihn spüren. Den Schmerz, meine ich. Wenn ich das hinter mir habe, werde ich lächeln wie Marilyn Monroe, glaubst du nicht?« »Ich glaube alles, was du sagst«, sage ich.
Ich habe die Schachteln mit dem Weihnachtsschmuck gefunden. Bror Skoogs Ästhetik erlaubt keinen Flitterkram, aber ein Weihnachtsstern von Rosenthal im Fenster und ein Weihnachtservice von der königlich-dänischen Porzellanmanufaktur sind vorhanden. Ich habe einen kleinen Weihnachtsbaum besorgt und nach besten Kräften geschmückt. Sie findet ihn schön.
»Deine Mutter hat angerufen«, sage ich. »Sie und deine Schwester mit Familie wollen dich gerne sehen.«
»Das ist mir zuviel«, sagt sie und setzt sich erschöpft auf einen der Barcelona-Stühle. »Kannst du sie nicht anrufen und sagen, daß ich unbedingt Ruhe brauche. Weihnachten ist für sie nach wie vor ein großes Projekt. Ich begreife nicht, daß sie als erwachsene Menschen so daran hängen.Mir ist es einfach unmöglich, jetzt an das Jesuskind zu denken.«
»Ich werde sie anrufen«, sage ich.
Sie starrt hinaus auf die Tannen. Weder der Corbusier-Sessel noch der Barcelona-Stuhl taugen für Trauer und Verzweiflung. Sie taugen für Immobilienmakler, Banker, Regisseure und Designer, Menschen, die nicht wissen, wie ein zerschossener Kopf aussieht. Sie sitzt auf der schmalen, schwarzen Ledercouch und kann sich nicht einmal über die Musik freuen, die ich aufgelegt habe. Die Weihnachtskantate von Honegger. »A Ceremony of Carols« von Britten. Das Weihnachtsoratorium von Saint-Saëns. Sie schiebt es auf die Gruppentherapie, die sehr anstrengend sei, wie sie sagt. Ungewohnt. Sich vor Fremden bloßzustellen. Aber sie muß da durch, und an dem Abend bei Selma und Torfinn Lynge hat sie sich auch
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