Der Fluß
bloßgestellt. Sie bittet mich, ihr zu verzeihen. Ich erwidere, daß es nichts zu verzeihen gebe.
Ich bereite Rippchen vor und Frikadellen, Würstchen, Rotkohl, Sauce, wie es sich gehört. Aber es ist umsonst. Ich brauche viel zu lange in der Küche, und als ich den Tisch gedeckt habe und wir uns bei gedämpfter Weihnachtsmusik hingesetzt haben, bittet sie mich, die Musik auszumachen. Sie ertrage keine Laute, sagt sie. Sie ertrage auch kein Essen. Sie ißt fast nichts. Sie trinkt nicht einmal Wein. Sie trinkt nur einige Schlucke Wasser.
»Du mußt nachsichtig mit mir sein«, sagt sie matt und blickt dabei an die Wand. »Ich weiß, daß ich gerade jetzt keine anregende Gesellschaft für dich bin. Aber es ist trotzdem gut, daheim zu sein.«
Der Abend kommt. Ich sehe, daß sie gähnt, daß sie sich nach dem Bett sehnt.
»Du schläfst in deinem Zimmer«, sage ich.
»Ja«, sagt sie. »Vielleicht ist das vernünftig. Anjas Bett istso schmal. Und ich brauche den Schlaf. Aber ein andermal …«
»Ein andermal«, sage ich. »Mach dir keine Gedanken.« Ich küsse sie auf die Stirn.
Ich bringe sie hinauf ins Bad. Ich bin voller Angst, etwas Falsches zu sagen. Sie falsch zu berühren. Sie zu beunruhigen.
Es ist für uns beide ein seltsamer und trauriger Weihnachtsabend. Als es neun schlägt, liegt sie schon im Bett. Ich sitze an ihrer Bettkante, wie bei einem kleinen Mädchen. Mir fällt ein, daß ich zum erstenmal in ihrem Schlafzimmer bin.
Bevor ich sie verlasse, bittet sie mich inständig, aufzubleiben, Platten zu spielen, zu tun, was mir gefällt.
Ich tue, was sie sagt, sitze im Wohnzimmer und trinke den Rotwein, den sie nicht trank.
Ich lege Brahms auf. Die Violinsonate in A-Dur. Mit Isaak Stern.
Das war Mutters Weihnachtsmusik. Sie liebte diese Sonate, besonders den zweiten Satz. Die langsamen Partien, die ernsten, das wiederkehrende Thema, mit jedem Mal inniger.
Ja, denke ich. Innigkeit. Ein langer, schwermütiger Ton, der nicht zu singen aufhört.
Die Leute aus der Klinik holen sie am Morgen nach den Weihnachtstagen ab. Sie küßt mich kraftlos mit trockenen Lippen auf die Wange.
»Mein Junge«, sagt sie. »Hab keine Angst. Es wird gut werden. Als Ärztin weiß ich, was mir alles bevorsteht.«
Das beruhigt mich nicht, aber was soll ich sagen?
Ich begleite sie zum Auto. Sie geht steif und seltsam, erinnert an eine alte Frau, die Angst hat, hinzufallen.
»Die Klinik veranstaltet am Silvesterabend ein Fest. Vielleicht willst du kommen? Magst du? Du kannst nicht inder Klinik übernachten, aber es gibt ein kleines Hotel in der Nähe, und ich kann für dich bezahlen.«
Die Leute von der Klinik nicken mir aufmunternd zu.
»Natürlich komme ich. Und bezahlen kann ich selbst.«
»Dann sehen wir uns bald«, sagt sie und lächelt fast glücklich.
»Ich freue mich«, sage ich.
Die Hochzeit
Ich bin nervöser als in der Aula, wenn ich aufs Podium muß. Rebecca Frost heiratet, und ich soll die Trauzeugenrede halten! Herrgott, ich habe mir kaum Gedanken gemacht, was ich zu diesem Anlaß sagen könnte. Ich muß mir spontan etwas einfallen lassen, und es sollte gut sein, denn Rebecca verdient nur das Beste.
Zum Glück habe ich ein tolles Geschenk bei Norway Design gekauft, eine Glasvase in Kobaltblau. Die wird ihr gefallen, das weiß ich.
Aber mir graut davor, wieder unter Menschen zu kommen, das Haus der Ängste und der Trauer verlassen zu müssen, gut gelaunt zu erscheinen, mit den überaus enthusiastischen Menschen in Rebeccas Familie zu plaudern, die mich ganz sicher neugierig und interessiert nach meinen Debütplänen fragen werden. Meine Erinnerungen an das Haus der Frosts auf Bygdøy sind nicht die besten. Das letztemal war ich nach Rebeccas Debütkonzert dort, und da habe ich entdeckt, daß meine Schwester Cathrine auch eine Beziehung mit Anja hatte.
Aber Cathrine ist diesmal nicht dabei. Sie ist irgendwo in Indien, will sich mit Hilfe eines Gurus selbst finden und wird nicht vor dem Sommer nach Norwegen zurückkehren.
Die Trauung findet in der Frognerkirche statt. Es gibt nicht so viele Kirchen in Norwegen, die groß genug sind, um den riesigen Freundeskreis der Familien Frost und Langballe fassen zu können.
Ich komme rechtzeitig, ärgere mich, daß ich es nicht geschafft habe, mir für dieses Ereignis einen neuen Anzug zu kaufen. Rebecca wird sicher merken, daß es der Begräbnisanzug ist, der, den ich bisher bei allen feierlichen Anlässen trug. Ärmel und Hosenbeine sind inzwischen zu kurz,
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