Der Fluß
»Wenn du willst.«
»Nein, das ist lieb gemeint«, sage ich. »Laß uns warten. Bis es für uns beide schön ist.«
»Bald wird alles schön sein«, sagt sie.
Wir schlafen eng beieinander, müde wie zwei Bären.
Hochzeitsvorbereitungen
Es vergehen vier Monate. Im Februar beginnt Marianne halbtags zu arbeiten. Im März verlängert sie die Arbeitszeit, im April arbeitet sie wieder voll, und man sieht ihr nicht mehr an, was sie durchgemacht hat.
Trotzdem hat sich etwas verändert. Die Angst hat sich in unserem Haus eingenistet. Ich merke, daß ich nicht mehr richtig entspannt sein kann, wenn ich nicht weiß, wo sie ist. Tagsüber, wenn sie in der Praxis ist und das Telefon klingelt, zucke ich zusammen. Dabei muß ich meine Nerven stärken, nachdem ich mich entschieden habe, das Debütkonzert ohne Generalproben zu geben. Ich fange an, das zu bereuen,bin aber zu stolz, um W. Gude anzurufen und zu bitten, diese Musikkens-Venner-Konzerte doch noch zu arrangieren. Es dürfte sowieso zu spät sein. Und ich bin sowieso nicht bereit, so lange von Marianne weg zu sein.
Es ist, als würden die Erotik und das Sexuelle in den Hintergrund treten, als gäbe es Wichtigeres und Ernsteres. So schnell können sich zwei Menschen aneinander binden, denke ich. So schnell kann die Vergangenheit in die Ferne rücken. Weil ich jetzt nur Marianne sehe, denke ich kaum noch an Bror Skoog und Anja. Aber ich versuche jede Stunde, die ich mit ihr zusammen bin, in ihrem Gesicht zu lesen. Sie macht mich gleichermaßen froh und ängstlich.
Manchmal, wenn ich morgens aufwache, merke ich, daß ich geweint habe. Vergeblich versuche ich mich zu erinnern, was ich geträumt habe. Im Gedächtnis bleiben nur Gefühle. Die Verzweiflung. Die Trauer, daß sich etwas Unwiderrufliches ereignet hat.
Marianne zwingt mich, mehr zu üben, als es strenggenommen nötig wäre. Sie hat eine panische Angst, mich in meiner Arbeit zu stören. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt und ich bereits sieben Stunden geübt habe, fragt sie mich, ob ich nicht noch üben müsse. Sie habe selbst genug zu tun, sagt sie. Sie hat vor, zu promovieren. Ich verstehe die Fachterminologie nicht ganz, aber es geht um medizinische Komplikationen nach Selbstverstümmelungen oder illegalen Abtreibungen. Sie zeigt mir Narben am Arm, Narben, die mir bis jetzt nicht aufgefallen waren, weil unsere Liebe bis jetzt nicht für das Licht geeignet war.
»Narben von Verletzungen mit einem Messer, die ich mir mit siebzehn Jahren zufügte, damals, als ich mit Stricknadeln abgetrieben habe.«
Ich frage mich, ob es klug von ihr ist, sich mit dieserdüsteren Materie zu beschäftigen. Aber sie sagt, daß sie das Problem schon jahrelang im Kopf hat, daß die Arbeit Spaß macht, daß sie sich Zeit läßt. Sie vergräbt sich bereits in dicke englische Fachbücher und medizinische Artikel.
Ich habe jetzt öfter Stunden bei Selma Lynge, merke aber, daß sie mir nicht mehr viel beibringen kann, jedenfalls nichts, was das Programm angeht, mit dem ich debütieren soll. Sie hat mir ein paar gute Tips zu den Präludien von Fartein Valen gegeben, zur Klangbehandlung atonaler Musik, die besondere Berücksichtigung der Obertöne. Auf die 7. Sonate von Prokofjew hat sie mich gedrillt, hat mich dazu gebracht, den Anschlag in den extremen Anfangs- und Schlußsätzen zu steigern, Gewicht und Pathos im Mittelsatz zu betonen, ein Pathos, das ich natürlich weiterführen kann bis zu Chopins f-Moll-Phantasie. Nicht die Virtuosität sollte ich in den Mittelpunkt stellen, sondern Klarheit, Strenge und Innigkeit. »Wenn dann die Gefühle kommen«, sagt sie, »muß es einen Grund geben, daß sie da sind, genau wie im wirklichen Leben.« Das ist ihr philosophischer Bezug zur Musik, der mich fasziniert und tröstet. Ich habe endlich das technische Niveau erreicht, wo es für sie nichts mehr zu kritisieren gibt. Deshalb können wir uns voll und ganz auf das Geistige in der Sonate von Beethoven konzentrieren, mit den Tempi experimentieren, herausfinden, in welchem Maß sie den Gefühlsausdruck beeinflussen, und die Lösung finden, die der Architektur der Musik am besten entspricht. »Die Fragmente in dieser Sonate sind ja nicht voneinander getrennt«, sagt sie. »Daraus ergeben sich Konsequenzen für die weitere Entwicklung bis hin zur Fuge.« Und im abschließenden Werk, Bachs großartigem Präludium in cis-Moll und der fünfstimmigen Fuge aus dem »Wohltemperierten Klavier», zwingt sie mich jede Stunde, einzusehen, daß
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