Der Fluß
in der Salatschüssel.
»Kann ich dir helfen und Brot schneiden?« frage ich.
»Gerne. Willst du noch weiter über deine Mutter reden?«
»Nein«, sage ich und erkenne das Messer wieder, mit dem sich Anja schnitt, bevor sie ohnmächtig wurde. »Ich habe das sicher nur erwähnt, weil ich wußte, daß du sie als Patientin hattest.«
»Was ist denn aus deinem Vater geworden?« Marianne Skoog verteilt die Hähnchenbrust und den Salat zuerst auf meinen Teller, dann auf ihren.
»Er ist mit einer geschäftstüchtigen Frau namens Ingeborg nach Sunnmøre gezogen. Sie verkaufen Damenunterwäsche. Er läßt nichts mehr von sich hören.«
»Männern fällt es sehr schwer, Trauer zu ertragen«, sagt sie. »Und sie mögen nicht allein sein. Die meisten finden sofort wieder eine neue Frau.«
Ich erröte wieder. Ich sehe, daß sie es sieht, und fühle mich ertappt. Es dauerte nur etwas mehr als zwei Monate nach Anjas Tod, bis Rebecca und ich miteinander schliefen, obwohl Rebecca meinte, wir hätten es nicht getan. Aber ich habe nicht vor, Marianne Skoog das zu erzählen. Sie wäresicher der Ansicht, daß das jungen Leuten in meinem Alter erlaubt sei. »Rock ’n’ Roll«, wie sie sagt.
Wir essen die Hähnchenbrust, plaudern über Themen, die ernster sind, als sie sich anhören. Die Hähnchenbrust ist trocken und langweilig. Der Salat schmeckt auch nicht besonders. Mir gefällt es, daß auch sie etwas nicht kann. Sie wirkt auf allen anderen Gebieten absolut professionell. Ich betrachte sie, während sie redet. Sie ist ruhig und ausgeglichen, hört aufmerksam zu, wenn ich etwas sage, reagiert mit intelligenten Kommentaren oder Gegenfragen. Unvorstellbar, daß sie erst vor einigen Monaten ihren Mann und ihr Kind verloren hat.
Aber über den Bootsunfall haben wir noch nicht geredet.
Welche Rolle spielten diese Menschen in ihrem Leben? Und wer war der, der ertrunken ist?
Ich wage nicht, danach zu fragen. Die Zeitungen waren diskret. Sie schrieben, es sei ein Arzt namens Erik Holm gewesen. Mehr will ich nicht wissen. Vorerst.
Der Rotwein wirkt, beruhigt die Nerven. Wir sind mit dem Essen fertig. Ich sehe, daß ihr Blick unruhig wird, daß ich aufstehen und gehen sollte.
»Danke für die Mahlzeit«, sage ich.
»Nur mit der Ruhe«, sagt sie. »Ich bin nicht so rigide. An diesem ersten Abend kannst du gerne noch etwas bleiben, wenn du willst. Ich habe ein Dessert. Rote Grütze mit Sahne.«
»Nein danke. Der Rotwein genügt mir.«
»Als junger Mensch sollte man vorsichtig sein mit dem Alkohol«, sagt sie ernst und dreht sich eine Zigarette. Dann lacht sie, erkennt den Widerspruch in ihrer Mahnung. »Das war natürlich der Grund, warum ich dich zum Wein eingeladen habe.«
Sie ist reizend, wenn sie sich selbst korrigiert, denke ich. Anja war auch so. Selbstkritisch bis zum letzten. Sie greift sich ins Haar.
»Heute brauche ich einfach noch mehr Wein«, sagt sie und schielt zu der zweiten Flasche, die auf der Anrichte steht. Gleich, als ich sie bemerkte, dachte ich, daß die auch getrunken werden soll. »Aber ich möchte dich nicht auf Abwege führen«, sagt sie.
»Ein Glas vertrage ich noch«, sage ich, froh darüber, daß sie sofort aufsteht und die Flasche öffnet. Ich habe jetzt Lust, mit ihr zusammen zu rauchen, und hole meine Filterzigaretten heraus. Sie ist schneller als ich und zündet für uns beide ein Streichholz an.
»Fein«, sagt sie und macht einen tiefen Zug. Dann schenkt sie ein.
»Aber ich gehe bald auf mein Zimmer und packe aus«, versichere ich.
Sie nickt, etwas in Gedanken versunken. »Es gefällt mir, daß du bereits von deinem Zimmer sprichst«, sagt sie.
Wir haben uns auf einmal nichts mehr zu sagen. Wir rauchen und trinken nur zusammen und starren vor uns hin. Ich merke, daß ich es mag, mit ihr zusammenzusein, daß ich jetzt entspannter bin. Ihr geht es offenbar ähnlich, falls es nicht nur die Wirkung des Weines ist.
»Wir haben beide einen großen Verlust erlitten«, sagt sie plötzlich, ohne mich anzusehen.
Ich wollte mich gerade erheben, beschließe aber, noch einige Minuten sitzen zu bleiben.
Es rutscht mir einfach heraus: »Wer war der, der starb?«
»Wer?« Sie schaut mich verwirrt an. »Meinst du Bror?«
»Nein. Der im Boot.«
Sie schüttelt den Kopf. »Über ihn wollen wir nicht reden«, sagt sie.
Es ist, als hörte ich nicht, was sie sagte.
»Er war Arzt, nicht wahr?«
»Ja. Erik war Arzt im Ullevål-Krankenhaus.«
»Was für ein Arzt?«
Sie schaut mich warnend an. »Es
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