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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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dieses Kind nicht wollte.«
    »Ist das wahr?« sage ich. »Er wollte kein Kind mit dir ?«
    »Du darfst nicht vergessen, wie jung ich war«, sagt sie und tätschelt fast mütterlich meine Wange. Und auch er war erst fünfundzwanzig Jahre, stand am Anfang seiner Karriere als Arzt, später Gehirnchirurg. Ihm gefiel der Gedanke, daß ich aus einer Arztfamilie stammte. Er wollte gemeinsam mit mir die Welt erobern. Es fiel ihm schwer, seine Verzweiflung über die Schwangerschaft zu verbergen, aber er versuchte es immerhin. Und als Anja geboren wurde und er sie das erstemal sah, war es, als würde etwas aufbrechen in ihm, schon bei dieser ersten Begegnung mit seiner Tochter liebte er sie mehr als jeden anderen Menschen. Und, wie ich dir bereits erzählt habe, stand hinter dieser Liebe immer das schlechte Gewissen und die Reue. Es war dieses kleine Menschenkind, dem er das Recht auf Leben hatte verweigern wollen!«
    Sie verliert sich in Erinnerungen. Es ist auf einmal ganz still in ihr. Von der Brunkollenhütte hört man Gegröle. Die Studenten haben vergessen, daß wir in der Nähe sind. Jetzt wird laut gesungen, Trinksprüche, Saufgesänge undunanständige Lieder. Es wird eine lange Nacht werden. Die Witze sind primitiv und kurz: Ein Gebrüll folgt dem nächsten: »Diese Flaschenöffnung ist verflucht kalt!« und der andere brüllt zurück, begeistert über den eigenen Witz: »So ist die Braut auch.«
    Ein Nachmittag mit Marianne Skoog. Ein Septembersamstag am Brunkollen. In einer Stunde wird die Sonne untergehen. Wir müssen aufbrechen. Wir sitzen nebeneinander auf dem umgestürzten Baumstamm, und ich möchte den Arm um sie legen, wie ein Gleichaltriger und nicht wie ein siebzehn Jahre jüngerer Mann. Ich wünsche mir eine Mündigkeit und ein Alter, die ich nicht habe. Ich wünsche mir, 1935 geboren zu sein und sie trösten zu können. Ich wünsche mir, über frei gewählte Abtreibung mit ihr zu reden und über das, was während des Krieges geschah. Ich wünsche mir, daß wir unsere Schicksale ›bezwingen‹, wie sie sagte, und einen neuen Kurs einschlagen. Ich wünsche mich weg von meiner herumirrenden Jugend. Ich wünsche mir gemeinsame Erfahrungen mit ihr, egal, wie teuer erkauft sie sein mögen.
    Und all das hätte vielleicht geschehen können, wenn ich gewagt hätte, ihr den Arm um die Schultern zu legen, sie festzuhalten wie eine Gleichaltrige.
    Aber ich kann es nicht. Sie würde es niemals zulassen. Und wenn sie es zugelassen hätte, wäre es wie ein Freundschaftsdienst gewesen, wie die Geste eines Mitglieds des Vereins Sozialistischer Ärzte, einer Vertreterin für den neuen Sexualaufklärungsdienst.
Intermezzo unter Bäumen
    »Wir müssen jetzt losgehen«, sage ich.
    »Mitten in meiner Geschichte?« Sie schaut mich etwas hilflos an.
    »Wenn nicht, müssen wir im Dunkeln hinunter zum Østernvann und weiter zur Haltestelle Grini.«
    »Rede ich zuviel?« sagt sie nervös. »Jugendliche wie du sind natürlich nicht an solch trostlosen Geschichten interessiert …«
    »Sag so was nicht!« rufe ich und bin überrascht von dem Zorn in meiner Stimme. Sie erschrickt. »Entschuldigung«, sage ich ruhiger. »Du weißt, was deine Geschichte für mich bedeutet. Wir wollen nicht auf der Höflichkeitsebene miteinander verkehren. Und jetzt Schwamm drüber! Einverstanden?«
    Sie versucht zu lachen. Steht auf. Schwankt ein bißchen, hat sich aber gleich wieder unter Kontrolle, läßt sich nichts anmerken. »Ich mag dich, wenn du offen sagst, was du denkst. Ich mag deine Stärke, die so plötzlich sichtbar wird. Vergiß sie nie, wo immer im Leben du dich befindest.«
    Ich nicke, wage es nicht, sie anzuschauen, wenn sie so spricht. Und will nicht, daß sie sieht, wie ich erröte.
    »Wir haben einen weiten Weg vor uns«, sage ich.
    »Ja, aber zum Glück geht es bergab.«
    Da verstehen wir gleichzeitig, was sie gerade gesagt hat, die direkte Verbindung zwischen ihrer Geschichte und dem Wort bergab , und wir fangen zu lachen an. Die übertragene Bedeutung ist allzu klar. Und das Lachen ist unser Freund, es ist freundlich und sanft. Es verlangt nach mehr. Eine Umarmung, eine Bestätigung, daß wir dieselbe Sprache sprechen, daß wir über dasselbe lachen. Sie steht da und platzt fast vor Lachen. Ich auch.
    »Bergab!« lacht sie, endlich in meinen Armen. »Buchstäblich!«
    »Ja, zum Glück!« lache ich unter Tränen und bin zugleich gerührt, denn es ist so merkwürdig und so ungewohnt, sie so im Arm zu halten.
    Wir merken es beide

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