Der Fluß
und ziehen uns zurück.
»Komm, wir gehen«, sagt sie fast munter. »Und beim Bergabgehen kann ich dir ja den Rest dieser schrecklichen Geschichte erzählen.«
Wanderung in die Dunkelheit
Ich halte Ausschau nach dem Habicht am Himmel. Ich weiß, daß er da ist, aber er muß sich hinter einer kleinen, goldenen Wolke versteckt haben. Er wird sich von jetzt an vor mir versteckt halten. Ich muß alle Prophezeiungen ganz allein deuten. Aber das weiß ich noch nicht. Wir machen einen weiten Bogen um die Brunkollenhütte, um zu vermeiden, in die dummen Witze der Studenten einbezogen zu werden.
»Jungs sind so«, flüstert Marianne Skoog beinahe entschuldigend im Hinblick auf meine Geschlechtsgenossen.
Und als wir hinaus auf den Waldweg kommen und abwärts gehen, ist das Lachen verstummt, das hinter uns und das zwischen uns. Der Spaß ist vorbei.
»Der Rest der Geschichte«, sage ich.
Sie zieht sich die Windjacke über, die sie bis jetzt um die Taille geschlungen hatte. Dann dreht sie sich beim Gehen eine Zigarette. Ich gebe ihr Feuer.
»Der Rest der Geschichte? Ich wünschte, der wäre nie geschrieben worden.«
»Auf die Geschichte mit Anja wirst du doch nicht verzichten wollen?«
»Verzichten? Nein. Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, ein Kind zu verlieren, Aksel. Du bist in vieler Hinsicht erwachsen, aber in dem Punkt bist du zu jung. Das ist eine Erfahrung, in die man sich unmöglich einfühlen kann, ebenso unmöglich, wie es für einen ist, der keine Kinder hat, die Gefühle einer Mutter und eines Vaters zu verstehen. Dabei meinen wir, so viel verstehen zu können. DieVolksaufklärung macht uns weis, wir könnten uns jedes Wissen anlesen. Aber das können wir nicht. Wir wissen nicht, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren. Ebensowenig weiß kaum einer, was das für ein Gefühl ist, sich das Leben zu nehmen. Bror Skoog wußte es eine Zehntelsekunde lang. Und ich werde nie vergessen, daß ausgerechnet er diese Einsicht haben sollte.«
»Bei unserem Essen letztes Jahr im Blom sagtest du, daß du ihn verlassen wolltest, sobald Anja achtzehn ist?« erinnere ich sie.
»Ja«, sagt sie, während wir nebeneinander den Berg hinunter zum Østernvann gehen und sich die Sonne den Gipfeln der Bergrücken im Westen nähert. »Er war ein kranker Mann, und ich begriff es zu spät. Daß man krank ist, bedeutet aber nicht, daß man nicht viel Gutes tun kann. Seine Krankheit war von der herzzerreißenden Art. Er liebte sowohl Anja als auch mich zu sehr. Wegen uns riß er seine Gefühle in Fetzen. Er bewachte mich, hatte täglich Angst, ich würde mir einen anderen Mann suchen, weil er einmal gewollt hatte, daß Anja nicht geboren wird. Er meinte, ich würde nichts anderes denken und ihm all das, was er als Fünfundzwanzigjähriger gemacht hat, Tag für Tag vorwerfen. Jedesmal, wenn er mich sah, meinte er, mein Blick würde ihn anklagen. Ich bat ihn, flehte ihn an, nicht in solchen Bahnen zu denken, aber er war einfach nicht davon abzubringen. Und weil er ein solches Bedürfnis nach Buße hatte, übertrug er es auf Anja. Sie sollte nicht unter dem Fehler ihres Vaters leiden. Er begann, sie zu vergöttern, ebenso wie er mich weiterhin vergötterte. Es gab keinen aufmerksameren und verständnisvolleren Vater und Ehemann als Bror Skoog. Aber das war einfach zuviel. Er vergötterte uns so sehr, daß wir fast vor seiner Anbetung auf die Knie fielen, und als ich das durchschaute, starb etwas in mir, und nichts war mehr wie vorher.«
Plötzlich versiegt ihre Geschichte. Sie hat nichts mehr zu erzählen, bis ich mit neuen Fragen komme.
»Aber er wußte nicht, daß du vorhattest, ihn zu verlassen?« »Nein, eigentlich nicht. Aber er war grenzenlos eifersüchtig.«
»Und währenddessen wurde Anja dünner und dünner.«
»Ja, und darüber zu reden ist am schwierigsten«, sagt sie. »Denn ich habe es viel zu spät gesehen, zu spät erkannt. Ich dachte, alles an ihr sei gesund. Sie war überall die Beste. Jemand sagte, sie sei die Schönste. Es war nicht mein vordringliches Ziel, daß sie so verdammt schön sein mußte. Ich wollte, daß sie gesund und lebensfroh ist, daß sie gerne zur Schule geht, gerne am Flügel sitzt, der ihr so wichtig war. Ich übersah das Kranke daran. Ich übersah, daß ich Bror ein zweites Kind verweigerte. Ich übersah, daß hinter seiner grenzenlosen Fürsorge für seine Tochter eine grenzenlose Selbstverachtung steckte. Das war der Grund, warum er ins Ästhetische floh und Anja dorthin mitnahm.
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