Der Fluß
Er baute für sie eine Märchenwelt. Er ersetzte Asbjørnsen und Moe durch Le Corbusier und AR-Lautsprecher, durch Bruckner und Chopin. Aber er meinte das ganz aufrichtig, fast naiv. Kein Gehirnchirurg der Welt hat mehr Zeit für sein Privatleben gehabt. Vielleicht, weil er eine so unglaubliche Koryphäe in seinem Fach war, konnte er seine Anwesenheit im Krankenhaus selbst festlegen. Und es war Anja, der er all seine Zeit widmete. Und dadurch, daß er sich so sehr um Anja kümmerte, dachte er vielleicht, es würde ihm gelingen, meine Gefühle für ihn wiederherzustellen, die er in der schwierigen Schwangerschaft zerstört hatte, wie er glaubte.«
»Das klingt erdrückend.«
»Ja, mein Lieber. Seltsam war nur, daß keiner von uns merkte, wie erdrückend es war. Wir waren nicht offen für all die Spannungen, die in der Luft lagen. Wir lebten von Anfang an im Elvefaret, weil Brors steinreicher Großvater geradestarb, als wir heirateten, und weil Brors Eltern uns etwas Gutes tun wollten in einer schwierigen Situation. So eine luxuriöse Wohnsituation wie ich hatte kein anderer Medizinstudent. Und vielleicht, weil mir so vieles leichtgemacht wurde, auch wenn es eine Herausforderung war, als Mutter eines kleinen Kindes die Ausbildung zur Gynäkologin zu machen, habe ich die Fähigkeit verloren, das Nächstliegende zu sehen. Ich war mir völlig sicher, daß Bror und ich trotz allem eine Art von Glück verwirklichten. Ich glaubte jedenfalls nicht, daß Anja angesteckt werden könnte von der Schwärze und den Fehlern, die unser Zusammenleben so früh vergifteten.«
»Hast du nicht gesehen, daß sie immer dünner wurde?«
»Nein«, sagt Marianne Skoog in der Dämmerung, mit einer Zigarette dicht an den Lippen. »Ich liebte sie doch. Obwohl sie ein Papakind war, war ich doch ihre Mutter. Und mein Arbeitsfeld, der Verein Sozialistischer Ärzte, all die politischen Kämpfe, verbunden mit dem Lebensoptimismus, wirkten wie ein Schleier, der mich blind machte, wenn ich heimkam. Obwohl Bror psychisch labil war und einige Anfälle klinischer Depression gehabt hatte, war ich so sicher, daß er sich bestens um Anja kümmerte. Ich sage das nicht, um mich zu rechtfertigen, sondern um eine Form der Betriebsblindheit deutlich zu machen. Ich sah überall das Leid der Menschen, nur nicht im eigenen Haus. Ich hatte mit so viel Kummer und Schmerz zu tun, mit so vielen schrecklichen Schicksalen. Als würde man jeden Tag Leben retten. Aber wenn ich heimkam, wollte ich mich ausruhen. Da wollte ich mich mit einem Glas Rotwein hinsetzen und zuhören, wie meine Tochter Nocturnes von Chopin für mich spielt. Da wollte ich die perfekte Mutter sein. Da war ich nicht mehr Mitglied des Vereins Sozialistischer Ärzte. Da weigerte ich mich, zu sehen, wie dünn sie geworden war.«
Beim Reden wird es dunkel. Bald ist es ganz dunkel, und ich muß die Taschenlampe herausholen. Da werde ich zum Taschenlampenmann, da übernehme ich Bror Skoogs Rolle, der unten im Erlengebüsch nach mir leuchtete. Er hielt Ausschau nach einem möglichen Feind, einem Rivalen. Ich halte Ausschau nach einem Steig oder einem Weg, der uns zur Haltestelle Grini bringen kann.
»Aber wie konnte sie so dünn werden«, sage ich vorsichtig. »Und wie konnte Bror Skoog es zulassen, daß sie mit dem Philharmonischen Orchester Ravel spielte, als sie nur noch vierzig Kilo wog?«
Sie bleibt in der Dunkelheit stehen.
Ich höre eine bebende Stimme.
»Du darfst nicht so direkt mit mir sprechen«, sagt sie. »Ich ertrage das nicht.«
Es überläuft mich kalt, das kommt unerwartet. Marianne Skoog. Ist sie nicht in der Lage, eine so vorsichtige und klare Frage zu beantworten?
Nein, sie steht da und schwankt.
»Was ist los?« frage ich. »Sag etwas. Sag etwas!«
Aber sie antwortet nicht.
Dann kippt sie um.
Und plötzlich ist alles anders, denke ich. Wie wenn eine Wunde sichtbar wird, wie wenn etwas zu spät ist. Und ganz egal, was kommen wird, es ist sowieso zu spät. So war das jetzt. Ich knie auf einem Waldweg und fasse sie unter dem Kopf, ich möchte sie hochheben. Aber bin ich stark genug?
Als sie wieder zu sich kommt, blickt sie mir in die Augen und murmelt völlig verwirrt: »Entschuldigung. Ehrlich. Entschuldige. Es kam so unerwartet.« Ich versuche, sie in eine sitzende Position zu bringen.
Wir sind jetzt ganz allein. Nur die Tiere, der Wald und wir.Und die Studenten weiter oben, außerhalb unserer Reichweite.
»Wo bin ich?« sagt sie.
»Weit drinnen im Wald, dem grünen«,
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