Der Fluß
sage ich. »Weißt du noch, wo du bist? Weißt du, daß wir auf halbem Weg zwischen dem Brunkollen und der Haltestelle Grini sind?«
»Weit drinnen im Wald, dem grünen? Das klingt jedenfalls beruhigend.«
»Ich werde uns nach Hause bringen«, sage ich. »Ich werde uns beide nach Hause bringen.«
Da klammert sie sich an mich.
»Du darfst mich jetzt nicht verlassen«, sagt sie.
»Ich werde uns beide nach Hause bringen«, sage ich.
Sie versucht, aufzustehen. Ich helfe ihr dabei. Aber die Beine tragen sie nicht.
»Ich falle wieder!«
»Bergab!«
Aber sie erinnert sich nicht mehr an das witzige Wortspiel. »Hilf mir«, sagt sie.
Sie hält mich krampfhaft fest.
Rückweg
Ich trage sie auf dem Rücken, kann fast nichts sehen, denn ich habe die Taschenlampe an der Stelle, wo Marianne zusammenbrach, verloren und will nicht zurückgehen, um sie zu suchen.
Da ertönt in nächster Nähe ein Schuß, und sie lockert den Griff um meine Schultern.
»Halt dich fest!« schreie ich.
Sie gehorcht, verstärkt ihren Griff.
»Die Schüsse sind ungefährlich«, sage ich. »Es sind nur die Hobbyschützen drüben am Skytterkollen.«
Ich gehe in der Dunkelheit. Die Sicht ist schlecht, doch zum Glück steigt der Mond auf.
»Wir schaffen das«, sage ich.
»Was schaffen wir?« sagt sie.
Da scheint sie von ihren eigenen Worten abrupt wach zu werden.
»Laß mich runter!« sagt sie und schlägt auf meinen Kopf. »Was geht hier vor?«
Ich gehorche sofort, drehe sie aber in Richtung Mond, um ihren Gesichtsausdruck sehen zu können.
Ihre Augen starren angstvoll, sind weit aufgerissen. Die Haut ist kreideweiß in diesem Licht.
»Du bist auf dem Weg gestürzt«, sage ich. »Du bist ohnmächtig geworden. Das kann passieren.«
»Du darfst mich nicht loslassen«, sagt sie. »Ich weiß, was passiert ist. Ich weiß, wo wir sind. Es ist nichts Schlimmes.« »Ich soll dich nicht loslassen?« frage ich.
»Nein, laß mich nicht los«, erwidert sie. »Ist das so schwer zu verstehen?«
Ich gehe langsam neben ihr, als sei sie alt und gebrechlich. Merkt sie es denn nicht selbst? Ich würde am liebsten heulen. Alles ist so anders.
»Was hast du auf dem Rücken?« fragt sie, während ihre Hand über meinen Körper tastet, als sei sie blind.
»Den Rucksack«, sage ich. »Die leere Weinflasche. Die beiden Gläser. Aber wir haben vergessen, die Schokolade zu essen. Möchtest du jetzt etwas Schokolade?«
»Ja, gerne«, sagt sie.
Wir stehen mitten auf dem Waldweg und essen Schokolade. Ich denke, daß ich ihr helfen muß, daß sie sich danach stärker fühlen wird. Aber schon nach einigen Bissen sagt sie:
»Ich mag nicht mehr.«
Und kippt mir wieder um.
Da trage ich sie. Ich trage sie den restlichen Weg bis zur Straßenbahnhaltestelle Grini.
Sie sagt nichts. Sie hängt einfach auf meinem Rücken, wie ein Sack Kartoffeln. Aber jedesmal, wenn ich ihr zurufe: »Halte dich besser fest!« gehorcht sie und schlingt die Arme fester um meinen Hals. Es ist fast ein Würgegriff, aber ich kann noch atmen. Und so gehen wir die letzten Kilometer zur Haltestelle, ohne daß einer von uns ein Wort sagt.
Als die Straßenbahn kommt, kann sie immer noch nicht auf den Beinen stehen. Der Schaffner meint, sie sei betrunken, und will uns nicht einsteigen lassen.
»Sie ist krank!« sage ich mit meiner schärfsten Stimme. »Wir müssen nur bis Røa.«
Wir setzen uns gleich neben die Tür. Die anderen Fahrgäste beobachten uns. Sie redet nicht, und ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen soll. Was sie mir erzählte, hat etwas in ihr ausgelöst. Oder war das, was sie nicht erzählt hat, schuld an ihrer Veränderung? Diese Frau, die da neben mir sitzt, kenne ich nicht. Sie ist voller Angst. Und sie kann nicht auf ihren Beinen stehen. Sie zittert, und ich halte sie fest.
»Nicht weggehen«, flüstert sie.
»Ich gehe nicht weg von dir«, sage ich. »wir steigen gemeinsam bei der Haltestelle Røa aus, und ich trage dich nach Hause.«
Sie nickt, blickt mit leeren Augen starr vor sich hin.
Ich trage sie den ganzen Melumveien hinunter bis zum Elvefaret. Sie ist wie ein schwerer Sack auf meinem Rücken, und ich bin froh, daß es dunkel ist und uns niemand sieht. Dann schließe ich das Skoog-Haus auf, ihr Haus, und es ist gut und traurig zugleich, wieder zurück zu sein. Ich lege sie auf das Sofa und streiche ihr über die Wange, versuche, sie zu beruhigen. Sie ist sehr unruhig.
»Soll ich dir etwas zu trinken holen?«
Sie nickt. »Ein Glas Wasser, aber nicht
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