Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
Sie bezog sich auf mich. Ausschließlich auf mich. Sie wußte ständig, daß ich da war. Sie vertraute mir und ließ mich machen. Ich wuchs vor ihren Augen vom Knaben zum Mann. Und ich habe instinktiv das Gefühl, daß ich nicht mehr zu jung für sie bin, daß sie nicht an mein Alter denkt, wenn sie mich sieht. Die vielen intimen Augenblicke, die zwischen uns waren, haben unsere Gefühle verändert. Sie weiß, wie sehr ich sie begehre, denke ich, wie sehr sie meine Gedanken in ihrer Gewalt hat, wie begehrenswert sie nach wie vor ist. Sie weiß, daß ich nach allem suche, was an ihr Anja ist, daß ich es liebe, egal ob froh oder düster. Wenn es nur Anja ist. Wenn es nur Anjas Mutter ist.Denn sie ist auch so viel mehr als Anja, so viel anderes, was Anja nicht war. Anja hatte fast alles vor sich. Marianne Skoog hat so viel hinter sich. Und alles was sie erlebt hat, erregt mich. Auch ihr Schmerz, ihre Trauer erregen mich, vielleicht, weil ich sie ein Stück weit begleiten kann, weil der Tod ein selbstverständlicher Hintergrund für unseren ständig gefährdeten Alltag ist.
    Aber ist der Gedanke, eine Beziehung zu dieser Frau anzufangen, die meine Mutter sein könnte, nicht völlig abwegig? Ist es nicht beinahe grotesk, ein so starkes Verlangen nach einer Frau zu empfinden, die in Trauer ist, die eindeutig Angst hat, die trotz ihres starken Wunsches nach Kontrolle eben doch keine hat? Und falls ich nun auf einer völlig falschen Fährte bin? Woher habe ich in dem Fall diese Selbstsicherheit? Vielleicht würde sie laut lachen, wenn sie meine Gedanken lesen könnte. Sie hat recht. Ich brauche in erster Linie Ruhe und Stabilität. Damit ich mich konzentriere, damit ich hart arbeite, Stunde um Stunde an Anjas Flügel spiele. Was glaube ich eigentlich, wer ich bin? Ein Geschenk Gottes an die Frau? Ich, Aksel Vinding, ein ganz gewöhnlicher und etwas sonderbarer Klavierstudent, zwar mit starken Leidenschaften, aber nicht sehr strukturiert in dem, was ich mir vornehme. Wie kann ich es mit ihren männlichen Kollegen im Verein Sozialistischer Ärzte aufnehmen? Wie kann ich es wagen, zu glauben, ich hätte hier den Vortritt vor den Männern, mit denen sie letzten Sommer beim Segeln war. Männer um die Vierzig, vielleicht Väter, vielleicht mit gescheiterten Beziehungen hinter sich. Männer mit einer Geschichte. Meine Geschichte ist so klein und kurz, und sie kreist um ein kleines Flußtal am Rande von Oslo. Sie kreist um Mutter, Cathrine und Anja, und noch einige mehr. Ich liege im Bett und grüble und höre den Fluß, der im Talgrund direkt unterhalb des Hauses rauscht. Er führt viel Wasser nach all dem Regen. Das Rauschen des Lysakerelven istzugleich beruhigend und erregend. Marianne Skoog, denke ich. Herrgott, wie soll das mit uns weitergehen?
Weißer Sonntag
    Ich erwache mit einem Ruck. Die Sonne scheint auf die Bäume. Es ist schon lange Tag, nicht eine Wolke am Himmel, und ich denke, daß ich wegen irgend etwas ein schlechtes Gewissen haben müßte, weiß aber nicht, was es ist. Mein Körper fühlt sich schwer an von den Träumen der Nacht. Dann fällt mir ein, daß Sonntag ist. Mir fällt ein, was ich dachte, bevor ich einschlief. Mir fällt der gestrige Tag ein und Marianne Skoogs Verzweiflung.
    Ich gehe ins Bad, dusche lange, denke an sie, hoffe, daß sie geschlafen hat, daß sie wieder stark ist und sicher auf den Beinen. Ich habe Mutters alten Bademantel an, als ich auf den Gang hinaustrete und wir zusammenstoßen.
    Und noch immer, nach so vielen Jahren, könnte ich nicht sagen, ob sie in mich hineinlief oder ich in sie. Aber höchstwahrscheinlich war ich es, der sich im Bruchteil einer Sekunde dazu entschloß, an das Unmögliche zu glauben. Ja, noch viele Jahre danach spüre ich, wie das Blut beim Gedanken an diesen Augenblick in den Schläfen pocht, als ich die Arme öffne, als wir uns um den Hals fallen, als ich sie anders als sonst ganz dicht an mir spüre, als sie nicht wie ein Sandsack auf meinem Rücken hängt, sondern wir Bauch an Bauch stehen, und diesmal hat sie ihre Nase in meiner Halsgrube. Wir wissen beide, wie ernst es ist, was wir jetzt tun, als wir uns über den Rücken streicheln, als wir das nicht mit den anspruchslosen Händen des Trostes tun.
    »Nichts sagen«, sagt sie. »Bitte sag kein Wort.«
    »Ich sage nichts«, sage ich.
    Und ich weiß nicht mehr, ob sie nun mich küßt oder ich sie. Es ist nicht wichtig. Wir küssen einander an diesem Sonntag morgen im Gang. Sie schmeckt nach Schlaf und

Weitere Kostenlose Bücher