Der Fluß
sofort. Du darfst nicht weggehen.«
»Ich gehe nicht weg.«
Sie atmet tief, als mache sie eine Übung, die sie gelernt hat. Dann schüttelt sie plötzlich heftig den Kopf, als denke sie Gedanken, die sie nicht denken will, und die Augen sind schwarz vor Trauer. Dann kommen die Tränen, wie wenn sich eine Schleuse öffnet oder ein Damm bricht. Ich habe noch nie ein solches Weinen erlebt. Nicht einmal Cathrine konnte mit einer so bodenlosen Verzweiflung weinen. Und jetzt, so viele Jahre danach, erinnere ich mich an dieses Weinen mit demselben Schrecken wie damals, und mir läuft es kalt den Rücken hinunter.
Ich halte sie in meinen Armen. Sie weint kreischend laut wie ein kleines Kind. Das untröstliche Weinen eines Menschen in der Not.
»Ich gehe nicht weg von dir«, sage ich wieder und immer wieder. »Ich gehe nicht weg von dir.«
Es ist spät in der Nacht, als sie endlich zu weinen aufgehört hat, als sie mich völlig erschöpft anschaut und sagt:
»Entschuldigung.«
»Was gibt es zu entschuldigen?« frage ich.
»Daß ich dir das alles zumute. Daß du das erleben mußt.« »Ich weiß nicht einmal, was ich erlebt habe«, sage ich. »Ich weiß nur, daß es dir schlechtgeht.«
»Das kommt wellenartig«, sagt sie. »Vielleicht ist es zu früh für mich, darüber zu reden. Aber ich meine, ich bin es dir schuldig, aus irgendeinem Grund.« Sie mustert mich forschend, während sie redet, als wolle sie feststellen, wie ich das alles aufgenommen habe, wie ich sie nach dem, was passiert ist, ansehe. »Und du, du brauchst doch jetzt in deinem Leben dringend Ruhe und Stabilität.«
»Denk nicht an mich. Ich finde meinen Weg.«
»Das habe ich auch gemeint. Und es funktioniert bis zu einem bestimmten Punkt. Aber dann ist auf einmal Schluß.« »Fühlst du dich jetzt besser?«
Sie drückt meine Hand, lächelt müde. »Ja, viel besser. Und jetzt müssen wir schlafen gehen.«
»Aber kannst du denn stehen?«
»Das denke ich doch.«
Sie erhebt sich vom Sofa. Die Beine tragen sie. Ich stehe ebenfalls auf.
»Gute Nacht, mein junger, treuer Freund«, sagt sie. »Du weißt gar nicht, was du heute für mich getan hast. Und eines Tages wirst du den Rest der Geschichte hören.«
Sogar jetzt ist sie schön, denke ich, obwohl das Gesicht tränenverschmiert ist. Ich könnte sie küssen, könnte die schweren Gedanken mit Zärtlichkeit vertreiben. Schamlos denke ich den Gedanken weiter, daß wir nicht vom Sofa aufstehen, daß ich mich zu ihr lege, daß wir liegenbleiben. Aber es ist zu spät.
Sie küßt mich leicht auf den Mund.
»Entschuldigung«, sagt sie. »Aber ich habe gesehen, daß Rebecca es gemacht hat. Und sie ist ja auch nur eine gute Freundin.«
Ich erröte, weil sie mich durchschaut hat, weil sie alle meine verbotenen Gedanken sieht.
»Geh jetzt schlafen«, sagt sie mit einem matten Lächeln. »Morgen ist auch noch ein Tag. Ich muß bis Montag früh wieder in Form kommen. Ich werde sicher lange schlafen.«
»Aber kannst du denn am Montag arbeiten?« frage ich.
»Natürlich gehe ich am Montag zur Arbeit«, sagt sie.
Nachtgedanken
In der Nacht liege ich wach, die Erlebnisse lassen mich nicht los und das, was sie erzählt hat. Ichfrage mich, ob ich den Rest der Geschichte hören werde, ob sie jemals in der Lage sein wird, das zu erzählen. Die Arme schmerzen, und es sticht im Rücken. Hatte sie eine Panikattacke? Haben deshalb ihre Beine den Dienst versagt? Mutter hatte Panikattacken, als Cathrine und ich klein waren. Die fürchterlichen Auseinandersetzungen mit Vater haben so viel in ihr aufgerissen. Viel Leidenschaft und viel Zorn. In Marianne Skoog ist auch viel Leidenschaft, sosehr sie das vor mir verbergen möchte. Aber in ihr ist auch viel Trauer. Mir fehlt ihre Nähe. In meinem Körper steckt eine tiefe Unruhe, eine Angst um sie, die sich mit der Sehnsucht nach ihrem Körper mischt. Rebecca sagte ohne Umschweife, daß sie mit mir schlafen will. Zum erstenmal gestehe ich mir ohne Umschweife ein, daß ich mit Marianne Skoog schlafen will. Dieses Begehren ist gewachsen, Tag für Tag, vielleicht, weil wir allein in diesem Haus wohnen. Ich weiß, daß sie Freunde hat, einen großen Bekanntenkreis, daß sie gesellig ist. Trotzdem kommt sie jeden Abend nach Hause, und wir schleichen umeinander herum wie die Katze um den heißen Brei. Vor einigen Stunden hat sie mich in Angst und Schrecken versetzt, aber wir waren uns dabei nahe. Selbst als sie weinte und tief in ihrer eigenen Welt war, fühlte ich mich ihr nahe.
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