Der Fluß
es mir wichtig, in Erinnerung zu behalten, was ich da mache, es schriftlich festzuhalten. Mein Vorbild ist nicht die Musik der Vergangenheit. Es sind die Lieder, die mir Marianne Skoog vorgespielt hat. »The Only Living Boy in New York«. »I Think I Understand«. »Both Sides Now«. Ich plagiiere von allen dreien. Und zugleich entsteht eine vierte Melodie. Es ist meine, allein meine. Ein winzig kleines Stück Musik, denke ich. Ganz bescheiden. Und ich weiß, daß ich es »Der Fluß« nennen werde. Ich erlaube mir, es wieder und wieder zu spielen. Und jedesmal mache ich es anders, mit immer gewagteren Improvisationen. Ich weiß nicht, warum ich dabei an Martha Argerich denke. Vielleicht, um mir bewußt zu machen, daß die Jugend vorbei ist, daß es höchste Zeit wird, meinen eigenen Ausdruck zu finden. Sie war acht Jahre alt, als sie debütierte. Mit sechzehn Jahren gewann sie den Wettbewerb in Genf und den Busoni-Wettbewerb. Die Welt lag offen vor ihr. Mit achtzehn Jahren spielte sie Prokofjews »Toccata« und die »Ungarischen Rhapsodien« von Liszt ein. Bereits damals zählte sie zur Meisterklasse. Dann kam die Krise. Mit einundzwanzig erkrankte sie an einer Depression, zog nach New York und tat nichts, wie sie sagte. Was geschah in diesen Jahren? Was dachte sie? Was brachte sie heraus aus der Krise? Denn ihr Comeback war furchterregend, sie spielte die schockierende Schallplatte mit Chopin, Brahms, Ravel, Prokofjew und Liszt ein. Und danach ging es nur noch aufwärts.
Aber wenn es nur abwärts gegangen wäre?
Ich improvisiere, wechsle zwischen Gedanken und Stimmungen. Dann denke ich nicht mehr an andere. Ich denke nur an »Der Fluß«. Dann denke ich nur an Marianne Skoog. Die Melodie weitet sich, streckt sich nach oben und plötzlich nach der Seite. Sie darf nicht zu hell werden, denke ich. Sie darf nicht überschwappen ins Unverpflichtende.Jeder Ton muß eine Konsequenz haben, muß etwas, das ich erfahren habe, in einer neuen Form widerspiegeln. Marianne Skoog, denke ich. Diese Töne handeln von dir.
Die Farben der Tonarten
Ja, die Tonarten haben Farben, denke ich und bleibe einige Minuten im sogenannten Beethoven-Stuhl sitzen. Zusammen können sie zu einem Gemälde werden, aber was will der Maler ausdrücken?
C-Dur ist gelb wie das Gras nach dem Winter, wie Marianne Skoogs Haar.
Des-Dur ist noch gelber. Wie Herbstlaub.
Es-Dur ist grauweiß und durchsichtig wie Wasser.
E-Moll ist grauer, wie Schnee im März oder wie das Meer, wenn die Wolken kommen.
F-Dur ist braun, wie die Getreidefelder im August.
Fis-Moll ist vielfarbig, wie Schmetterlinge im Regen.
G-Dur ist blau, wie die Horizontlinie an einem Sonnentag. As-Dur ist hellrot, wie die Farbe von Anjas Lippen.
A-Dur ist knallrot, wie italienische Backsteinhäuser, oder wie Selma Lynges geschminkter Mund.
B-Moll ist weißbraun, wie Sand.
B-Dur ist wie Löwenzahn.
H-Moll ist braungrau, wie die Baumstämme vor Anjas Zimmer.
Unterwegs zum Sandbunnveien
Sie hat versprochen, daß sie mit mir kommen will. Und als der Tag da ist, wirkt sie wie von einem Licht umgeben, von einer Ruhe, wie ich sie noch nie bei ihr gesehen habe. In ihr ist etwas geschehen, das sich nicht mit Worten beschreiben läßt. Ich wage nicht, danach zu fragen.
»Du bist so schön heute«, sage ich nur, als sie aus dem Bad kommt, dezent geschminkt, bereit zum Ausgehen.
»Du Lieber«, sagt sie. »Du solltest es einmal mit einer Brille versuchen.«
»Das ist nicht nötig.«
»Ich weiß sehr wenig von deiner Welt«, sagt sie, »deshalb ist es sicher interessant, Selma Lynge im eigenen Heim kennenzulernen.«
Mir fällt auf, daß sie ein elegantes, türkisfarbenes Kleid angezogen hat, das die grüne Farbe ihrer Augen unterstreicht. Seltsam, denke ich. In solchen Augenblicken rückt der Gedanke, daß sie Witwe ist und ihr Kind verloren hat, näher. Sich schmücken heißt das Leben preisen. Doch sobald wir das tun, wird uns beiden bewußt, was wir verloren haben. In außergewöhnlichen Situationen fühlen wir uns arm und verwundbar. Wir sind eingeladen bei zwei Persönlichkeiten des kulturellen Lebens. Sie kommt meinetwegen mit. Das rührt mich, nimmt mir aber nicht das Gefühl, daß mit ihr etwas anders ist. Wir haben uns in letzter Zeit fast nicht gesehen. Sie hat hart gearbeitet, und abends ist sie in ihrem Büro verschwunden. Ich habe gehört, wie sie dort leise und lange telefonierte. Manchmal ist sie in ihr Zimmer gegangen. Manchmal ist sie zu mir gekommen. »Laß mich ein
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