Der Fluß
bißchen spielen mit dir«, hat sie mit ihrer praktischen und alltäglichen Stimme gesagt. Aber sie hat mir nicht erlaubt, daß ich mich revanchiere. Das hat mich verunsichert.
Und es ist lange her, daß wir Joni Mitchell spielten.
Wir gehen den Melumveien entlang. Wir sind die Straße nicht oft zusammen gegangen. Unser Leben spielt sich im Skoog-Haus ab. Wir hätten die Abkürzung über den Fluß nehmen können, aber dann wären wir naß geworden. Deshalb haben wir uns für die Straßenbahn entschieden.
»Was, denkst du, will sie von uns?« Marianne Skoog rauchtbeim Gehen eine Selbstgedrehte. »Warum lädt sie mich ein?«
»Selma Lynge? Sie will einfach nett sein, glaubst du nicht?« »Weiß sie, daß wir eine feste Beziehung haben?«
»Natürlich«, lüge ich.
»Merkwürdig. Hat sie dazu nichts gesagt?«
Die Art, wie sie redet, macht mich unsicher.
»Sie sagte nur, daß sie dich treffen will«, sage ich und lege ihr den Arm um die Schultern.
Wir stehen vor dem großen, düsteren Haus im Sandbunnveien. Marianne Skoog schüttelt sich, drückt die Zigarette auf dem kalten Boden aus.
»Du meine Güte«, sagt sie.
»Bist du noch nie hiergewesen?«
»Nein«, sagt sie. »Als Anja bei Selma Lynge anfing, war sie längst über das Stadium der Klavierschülerin hinaus. Aber Selma Lynge war einmal bei uns. Ich erinnere mich, daß sie vor allem mit Bror kommunizierte.«
Ich nicke. Sie spürt meine Unruhe.
»Es wird alles gutgehen«, sagt sie beruhigend.
Soll ich es wagen, den Arm um ihre Schultern gelegt dazustehen, wenn die Tür aufgeht? Soll das meine Rache sein, wenn ich Selma Lynge zeige, daß wir eine Beziehung haben, Marianne Skoog und ich? Bin ich dazu stark genug?
Ich bin voller Selbstzweifel. Als sei mir die Fähigkeit, selbständig zu denken, abhanden gekommen. Zwei ältere, erfahrene Frauen denken für mich, formen mein Leben. Suche ich in ihnen die Mutter? Ist das wirklich so einfach? Stocksteif stehe ich neben Marianne Skoog, als die Tür aufgeht. Und obwohl ich nur Torfinn Lynges irres Gesicht sehe, habe ich das Bedürfnis, mich zu verbeugen.
»Guten Abend, guten Abend«, kichert Torfinn Lynge auf seine übliche Art und macht eine einladendeHandbewegung, wobei er um ein Haar Marianne Skoog an der Schläfe trifft. Ich sehe, daß er seinen Sigrun-Berg-Anzug trägt, ein rosalila handgewebtes Jackett aus harter und unbequemer Wolle. Typisch für Intellektuelle im Norwegen der siebziger Jahre. Zu allem Überfluß steckt am Revers ein kleiner, lächerlicher Zinnschmuck, ein Hinweis darauf, daß man Humanist, freisinniger Priester oder Kulturschaffender ist. Er hat sich immerhin herausgeputzt. Dieser Abend soll etwas Besonderes sein. Er riecht nach altem, ranzigem Rasierwasser. Aber die Haare stehen wie immer zu Berge.
Er bittet uns mit einer tiefen, übertriebenen Verbeugung herein. Damit könnte er uns verhöhnen wollen, ohne unhöflich zu sein. Aber es ist einfach seine Art. Mir wird Torfinn Lynge mit jedem Mal sympathischer. Es gibt so wenige aufrichtig unbeholfene und nette Menschen auf der Welt. »Kommt herein«, stottert er. »Gebt mir Jacke und Mantel.«
Mit viel Aufhebens hängt er beides in den Schrank im Flur, spielt den Diener in einer altmodischen Theaterkomödie.
Wo ist Selma Lynge? denke ich in meinem lächerlichen Anzug, den ich mir zu Mutters Begräbnis gekauft habe. Hundert Prozent Polyester. Er ist mir längst zu klein geworden. Als mich Marianne Skoog darin sah, schien sie etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber sofort anders, als wollte sie sich selbst verbieten, die traditionelle Rolle der fürsorglichen Frau zu übernehmen.
Wir stehen etwas hilflos im Flur, als warteten wir darauf, daß der Hofmarschall die Türflügel weit öffnet. Endlich kommt Selma Lynge aus der Tür zum Wohnzimmer. Sie trägt ebenfalls Türkis. Zwei Frauen in Türkis. Ich glaube nicht, daß Selma Lynge begeistert darüber ist, farblich wie Marianne Skoog gekleidet zu sein. Die beiden Frauen mustern einander kurz, prüfen alle Details, ehe sie sich die Hand geben.
Ich stehe zwischen den Frauen in meinem Leben. Ohne sie wäre ich nichts. Torfinn Lynge betrachtet uns, als seien wir hübsche Exemplare der Gattung Mensch.
»Gehen wir doch ins Wohnzimmer und nehmen wir einen Aperitif«, sagt Selma Lynge.
Wo sind die Kinder? denke ich. Sie sind immer irgendwo untergebracht. Die Katze ist auch nicht da.
»Wo ist die Katze?« frage ich.
»In meinem Schlafzimmer«, sagt Selma Lynge. »Sie mag keine
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