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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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emanzipierte, jugendliche Hippie-Ärztin, die sogar auf dem Woodstock-Festival gewesen ist. Auch wenn sich das verlockend anhört, meine ich nach wie vor, daß es nicht zu deinem Besten ist. Sie hat zuviel Vergangenheit. Ich habe nicht soviel Vergangenheit. Ach Aksel, geht es dir denn gut?«
    Sie dreht sich zu mir. Wir stehen auf der Brücke über den Lysakerelven. Mir fällt ein, daß es auf jeder Seite des Flusses eine Frau gibt, an jedem Ufer, und nur Rebecca steht mitten auf der Brücke, zusammen mit mir. Und ich habe Lust, sie zu küssen. Ich beuge mich zu ihr.
    »Wir werden das nicht tun«, sagt sie mit einem strengen Finger auf ihren Lippen. »Wir sind in einem Alter, in dem eine besondere Disziplin von uns erwartet wird.«
    »Sind wir das?« sage ich.
    »Ja«, nickt sie. »Aber ich brauche es, dich zu sehen. Oft.« Ich überlege, ob ich ihr von Martha Skoog erzählen soll, über mein Gefühl der Beunruhigung wegen Marianne, schaffe es aber nicht.
    »Ich brauche es auch, dich zu sehen«, sage ich.
    »Weißt du, wo er es noch mit mir gemacht hat«, sagt sie fast betroffen.
    »Nein«, sage ich.
    »Im Künstlerfoyer unter der Aula.«
    »Warum das?« frage ich.
    »Er will mich an allen Orten haben, die mir etwas bedeutet haben.«
    »Armer Mann, da hat er einiges zu tun.«
    »Ja. Anfangs war es noch lustig. Aber jetzt fängt es an, etwas anstrengend zu werden.«
    »Dann kommt vielleicht demnächst das Podium der Aula an die Reihe. Unter Munchs ›Sonne‹.«
    »Sei still.«
    Ich sehe es trotzdem vor mir, verspüre den Sog im Magen. »Mach mich nicht eifersüchtig«, sage ich.
    »Du hattest alle Möglichkeiten«, sagt sie.
Der Fluß
    Für mich gibt es jetzt zwei Welten, auf jeder Seite des Flusses eine. Auf der einen Seite die Welt der Marianne Skoog. Eine schöne, gefährliche und befreiende Welt. Die andere Welt gehört Selma Lynge. Eine fordernde, anstrengende und verpflichtende Welt. Ich fühle mich zu jung für beide, kann aber trotzdem nicht ohne sie leben. Ich bringe es nicht fertig, mit Marianne Skoog über ihre frühere Schwiegermutter zu reden. Ich wage nicht, an dem Lack zu kratzen, dem Firnis, mit dem sie sich umgibt, den sie, wie sie gesteht, braucht, um den Alltag zu bewältigen. Rebecca versucht, mir etwas mitzuteilen. Selma Lynge versucht, mir etwas mitzuteilen. Marianne Skoog versucht, mir etwas mitzuteilen. Sogar Schubert versucht, mir etwas mitzuteilen. Wie soll ich es schaffen, das Richtige zu tun?
    Ich gehe an einem Vormittag hinunter zum Fluß und denke über alles nach, was mir durch den Kopf geht. Ich bleibeam Ufer stehen. Der Schnee schmilzt wieder. Es ist noch zu früh für den Winter.
    Da höre ich den Rhythmus.
    Er kommt mit dem Wasser. Wird von den Steinen erzeugt. Ein Rhythmus, wie er Marianne Skoog gefallen würde, denke ich.
    Ich versuche mir den Rhythmus zu merken, den Rhythmus und den Laut. Keiner kann Wasser so wiedergeben wie Ravel. Aber das ist etwas anderes. Das ist der Fluß. Lysakerelven. Er versucht, mir etwas zu sagen. Und in meinem jugendlichen Übermut laufe ich hinauf zum Skoog-Haus, stürze zum Flügel und spiele zum erstenmal frei. Ich wähle, wie Schubert gesagt hat, zum erstenmal Zusammensetzung und Reihenfolge der Töne selbst aus. Ich spiele in G-Dur. Das ist eine einfache Tonart, fast vulgär. Aber für den Pianisten bietet sie eine Vielzahl an Möglichkeiten, weil es sich um eine besonders helle Tonart handelt. Beethoven wußte das. Sein viertes Klavierkonzert hat eine horizontale Poesie, die sich in G-Dur perfekt zum Ausdruck bringen läßt. Aber was will ich eigentlich? Halte ich mich etwa für Schubert? Soll ich ein Menuett machen? Nein, da kommen Quinten, Dreiklänge, Nonen. Danach eine kleine Sekunde, wie es in der Musikersprache heißt. Ein Fis, das einen Ausdruck, eine Eisnadel auf die Melodie legt. Das klingt ja wie Joni Mitchell, denke ich. Dies ist die Stimmung, die sie im open tuning erzeugt. Die Intervalle öffnen sich. Seit Schubert ist einiges anders. Und hat nicht Schubert in einem der Träume gesagt, daß er Gefallen an ihr fand?
    Ich taste mich weiter. Wie ein Schauder überläuft mich ein plötzliches Glück, oder ist es ein Schrecken? Eine kleine Melodie beginnt Form anzunehmen. Sie ist nicht besonders phantasievoll. Man erkennt viele Popmelodien darin. Trotzdem ist es meine Melodie. Und sie ist so einfach, so banal, daß ich an Marianne Skoog denke, während ich siespiele. Ich greife zum Notenpapier, das Anja hier liegen hatte. Plötzlich ist

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