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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Douglas Jeffers
. Das ist deine Aufgabe.«
    »Selbstverständlich«, fügte sie sich.
    Sie fuhren weiter, und sie fühlte sich vom Regen, von der Dunkelheit und der Angst vollkommen überschwemmt.
    »Weißt du, wohin wir fahren, Boswell?«, fragte Jeffers. Dann beantwortete er seine Frage selbst. »Wir werden eine alte Freun din besuchen. Meinst du nicht auch, dass Erinnerungen wie alte Freunde sind? Du kannst sie dir ins Gedächtnis rufen, so wie du eine Telefonnummer wählst. Sie melden sich und trösten dich.«
    »Und wenn es nun schlechte Erinnerungen sind?«, erkundigte sich Anne Hampton zaghaft.
    »Gute Frage«, antwortete er. »Aber ich glaube, schlechte Erinnerungen sind auf ihre Art genauso hilfreich und gut. Du legst sie auf deine eigene innere Waage, setzt deine eigenen Gewichtungen. Das Gute an schlechten Erinnerungen ist zumindest, na ja, dass sie nur Erinnerungen sind. Du hast sie hinter dir gelassen. Auf zu neuen Ufern … Ich denke, ich taxiere Erinnerungen nicht. Ich sehe sie als Teil eines Gesamtbilds. Als ob ich zum Beispiel eine lange Belichtungszeit nehme, wie bei einem dieser ausgefallenen Fotos auf dem
National Geographic
, weißt du, wo die Kamera das Aufblühen einer Blume festhält oder das Ausbrüten eines Eis.«
    Sie schrieb das auf.
    Jeffers lachte kalt.
    »Wir fahren dahin, wo der neue Douglas Jeffers etwas ausgebrütet hat.« Er reckte sich auf seinem Sitz vor und spähte in den grauen Himmel. »Einer der dunklen Orte der Erde«, zitierte er. Er sah zu Anne Hampton hinüber. »Weißt du, von wem das ist?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Das heißt, jemand hat es geschrieben, aber eine Romanfigur sagt es. Wer?«
    Er schnaubte, fast ein wenig amüsiert.
    »Du bist Anglistin im Hauptfach, komm schon! Kannst doch nicht auf dir sitzenlassen, dass dich ein angeschlagener alter Reporter mit Zitaten übertrumpft.«
    Sie kramte fieberhaft in ihrem Gedächtnis.
    »Shakespeare?«
    Er lachte. »Zu offensichtlich. Modern.«
    »Melville?«
    »Nicht schlecht. Schon wärmer.«
    »Faulkner? Nein, zu kurz … ähm, Hemingway?«
    »Denk ans Meer.«
    »Conrad!«
    Jeffers lachte, und sie fiel ein.
    Nach einer Weile fragte sie: »Wieso gehen wir an einen der dunklen Orte der Erde?«
    »Weil«, antwortete Jeffers in sachlichem Ton, »ich dort mein Herz entdeckt habe.«
    Sie fuhren schweigend weiter. Anne Hampton sah, dass Jeffers’ Augen funkelten, als er ein Ausfahrtschild zu einer Landstraße entdeckte. »Verflucht«, sagte er. »Das ist dieStraße.« Er verließ den Highway, und wenig später erkannte sie, dass sie auf einer schmalen Nebenstraße waren, über die sich große Bäume wölbten und den Himmel verdeckten, sich aber in der Mitte teilten, so dass der Regen herunterschüttete. Sie gingen rasant in eine Kurve, und Anne spürte, dass sie ein wenig ins Schleudern gerieten, so dass die Hinterräder sekundenlang durchdrehten und auf dem regennassen Asphalt quietschten. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, dass Jeffers die Straße hinunterraste und kaum noch Kontrolle über den Wagen hatte.
    »Liebe ist Schmerz«, erklärte Jeffers.
    Er wartete einen Moment.
    »Als ich klein war, habe ich immer die Männer meiner Mutter gehört. Sie stolperten und stapften herum und machten mehr Lärm, wenn sie versuchten, leise zu sein, als wenn sie sich einfach normal bewegt hätten. Es war spätnachts, und sie dachte wohl, ich schliefe. Ich kniff die Augen fest zu. Es war ein kleines rotes Lämpchen im Raum, so dass ich die Lider einen Spaltbreit öffnen und sie sehen konnte. Ich erinnere mich, wie sie stöhnte und sich beklagte und am Ende vor Schmerz aufschrie. Hab ich nie vergessen … Erscheint ganz einfach, nicht wahr? Je mehr Liebe, desto mehr Verletzung. Klingt wie ein Doowop-Song aus den Fünfzigern, was?« Er schnulzte: »You always love the one you hurt …«
    Er warf Anne Hampton einen Blick zu.
    Dann sang er weiter: »You always kill the one you love …«
    Er wandte sich wieder ab und konzentrierte sich auf die Straße.
    »Es ist nicht mehr weit«, sagte er.
    Doch vor Angst konnte sie ihn kaum hören.
    Sie drangen immer weiter in das sumpfige Dunkel zwischen den Bäumen vor. Nirgends sah sie Lebenszeichen abgesehen von vereinzelten, unscheinbaren Behausungen, die sich weiß vom immer dichter werdenden Grau des Tages abhoben. Im Verlauf der weiteren Fahrt war wieder mehr Himmel zu se hen, der sich mit noch dunkleren Wolken füllte, und sie wusste, dass sie sich der Küste näherten. Jeffers sagte nichts

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