Der Frauenjäger
auch wenn abgeschlossen ist.»
«Wann ist das denn passiert?», fragte Marlene.
Julia zuckte mit den Achseln. «Keine Ahnung. Mutti hat einen Stuhl unter die Klinke geklemmt und die alte Wäscheschleuder von Oma davorgestellt.»
«Das ist aber keine sichere Methode», meinte Marlene.
Julia zuckte noch einmal mit den Achseln. «Sagt Mutti auch. Sie will es so bald wie möglich reparieren lassen.»
Bei Karolas angespannter Finanzlage konnte das dauern. Aber Julia schien die Sache nicht sonderlich ernst zu nehmen. So wie sie es beschrieb, konnte man es auch kaum als Einbruchsversuch bezeichnen. Wenn die Tür schon bei leichtem Druck von außen aufging, war es entweder ein gelungener Einbruch – da hätte Karola aber Zeter und Mordio geschrien –, oder es war Verschleiß.
Julia verabschiedete sich lässig: «Bis später, Leute.»
Johanna und Kirsten wollten die restlichen Plakate als Handzettel verteilen. Alle waren sehr gespannt auf die Lesung und mehr noch auf das ominöse Tonband, für das der Aufwand betrieben wurde.
Nummer neun
Hin und wieder richtete Marlene den Oberkörper auf, streckte beide Hände auf Brusthöhe vor und führte sie im weiten Kreis zu den Seiten. Nirgendwo gab es unüberwindlichen Widerstand. Die Hand, die sie vorsetzen wollte, stieß zwar häufig gegen große Steine, oft genug gegen mächtige Felsbrocken, um die sie jedoch jedes Mal problemlos herumkriechen konnte.
Und zweimal tastete sie nach unten ins Leere, so weit hinunter, wie ihr Arm reichte, ohne sich dafür bäuchlings in den Dreck zu legen, was ihr wegen der neuen Steppjacke widerstrebte. Die war cremeweiß und sauteuer gewesen. Es reichte ja wohl, die Hose zu ruinieren und die Stiefeletten, denen das Krabbeln bestimmt auch nicht zum Vorteil gereichte. Weil ihre Fingerspitzen keinen Grund berührten und sie auch nicht sofort den gegenüberliegenden Rand ertasten konnte, kroch sie beide Male an dem Graben entlang weiter, bis wiederholtes Tasten anzeigte, dass er endlich schmal genug war, um auf die andere Seite zu wechseln.
Die Lautstärke des sich unentwegt wiederholenden Liedes nahm weiter ab, schwankte jedoch ständig, was wohl mit der Topographie zusammenhing. Da Marlene kaum noch hinhörte, entging ihr, dass die Musik ab einem gewissen Punkt allmählich wieder lauter schallte, das Wasserplätschern in den Pausen dagegen zunehmend leiser wurde, bis es schließlich kaum noch zu hören war.
Als sie das endlich registrierte, schoss ihr eine weitere Welle Panik durch den Leib und in die Glieder. Sie fand nur eine Erklärung für das Phänomen. Sie musste einen der großen Felsbrocken völlig umrundet haben und zurück in Richtung der Kuhle gekrochen sein. Demnach hatte sie nicht zwei Gräben überwunden, sondern nur einen!
Einmal hin, einmal her,
durchzuckte es sie wie ein Stromschlag, der den gesamten Körper in Aufruhr versetzte und im Hirn ein Feuerwerk scheinbar zusammenhangloser Gedanken und Assoziationen entzündete.
Brüderchen, komm tanz mit mir.
Dieses Kinderlied hatte sie vor vierzehn Jahren ihrer Tochter beigebracht. Johanna hatte es dann mit Ausdauer gesungen, kaum dass der kleine Leonard allein auf seinen Füßen stehen und ein paar Schritte tun konnte.
«Beide Hände reich ich dir, einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer.»
Und Leonard war herumgeschwenkt worden, bis er den Boden unter den Füßen verlor, weil er noch längst nicht so schnell im Kreis tanzen konnte wie seine Schwester.
Ich tanze, so schnell ich kann,
stieg der nächste Gedankenblitz empor. Den Bestseller von Barbara Gordon hatte Annette ihr im Sommer wärmstens ans Herz gelegt mit dem Hinweis, das Buch sei schon 1983 erschienen, aber immer noch aktuell und «irre spannend».
Es ging um eine tablettensüchtige Frau, deren Freund keine Ahnung hatte, wie gefährlich ein Entzug ohne ärztliche Aufsicht war. Er war selbst nicht ganz bei Trost, sperrte die Frau ein und hielt sie längere Zeit gefangen. Beinahe wäre sie gestorben. Mehr war bei Marlene nicht haftengeblieben, dafür las sie zu viel. Aber es war ein Roman nach Tatsachen, das wusste sie auch noch.
In das Pochen unter ihrer Schädeldecke mischte sich ein ungeheuerlicher Verdacht, den sie erst einmal für völlig absurdhielt. Bei ihr konnte man doch nicht von Sucht sprechen. Hin und wieder eine freiverkäufliche Schlaftablette. Mit einer Zwanzigerpackung kam sie fast zwei Monate aus.
Werner hätte gar nicht ständig darauf hinweisen müssen, dass man von dem Zeug
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