Der fremde Sohn (German Edition)
stirnrunzelnd: »Aber die Farbe –«
»Ist abscheulich.« Carrie marschierte zu der Stange, auf der mehr als hundert Kleidungsstücke hingen, die wöchentlich ausgetauscht wurden. Mit abrupten, immer hektischer werdenden Bewegungen schob sie eines nach dem anderen zur Seite und zog schließlich ein schwarzes T-Shirt heraus. Ein Stück weiter auf der Stange hing eine dunkle Jeans, die sie in der vorigen Woche getragen hatte, als sie sich eine kurze Erholungspause vom Studio gönnte. Seufzend drückte sie die beiden Kleidungsstücke an die Brust.
»Geben Sie mir die Stiefel dort. Die weiten grauen.«
Die Stylistin gehorchte, wobei sie sich jedoch wie in Zeitlupe bewegte und Carrie unverwandt anblickte. »Ich glaube, Leah wird das nicht –«
»Leah wird es doch«, entgegnete Carrie mit fester Stimme, nickte einmal kurz und verschwand in der Umkleidekabine. Als sie wieder herauskam, sah sie aus, als wolle sie zum Einkaufen fahren oder Max von der Schule abholen. Die Stylistin schnappte erschrocken nach Luft. Als Carrie durch den Flur davonstolzierte, lief sie ihr nach, den Bademantel in der Hand. »Vergiss es, Sue. Ich bleibe so.« Carries Augen blitzten gefährlich, doch kaum war sie um die Ecke gebogen, blieb sie stehen und presste die Hände mit gespreizten Fingern gegen die Wand. Dahinter lag der Eingang zu Studio vier, dem Schauplatz von Reality Check .
»O Gott«, flüsterte sie. Ihre Knie wurden weich, und Übelkeit stieg in ihr auf. Dennis hatte ihr erklärt, wie wichtig dieser Fall war. Er hatte den Mann in der vergangenen Woche verhaftet, ihn jedoch ohne Anklage wieder laufen lassen müssen. Er war auf dem Kontinent auf Geschäftsreise gewesen, als jemand seine Frau und die beiden Töchter erschoss und das Haus in Brand steckte. Nur die Einschusslöcher in ihren Schädeln gaben einen Hinweis auf den Verlauf der Tat. Der trauernde Familienvater hatte sich einverstanden erklärt, bei der Show mitzumachen, in der Hoffnung, dass sich daraufhin jemand mit wertvollen Informationen meldete. Er wollte unbedingt, dass der Mörder gefasst wurde, hatte er gesagt.
Doch Dennis war noch immer davon überzeugt, dass der Mann schuldig war und irgendwie die Ermordung seiner Familie eingefädelt hatte. Die drei Opfer hatten eine hohe Lebensversicherung gehabt, die unlängst noch beträchtlich erhöht worden war, und der Verdächtige steckte in finanziellen Schwierigkeiten. Für Dennis war klar, dass der Auftritt bei Reality Check nur ein Ablenkungsmanöver war, aber er hoffte auch, auf diesem Weg zu einem Geständnis zu gelangen.
»Das hält der nicht durch«, hatte Dennis am Tag zuvor gesagt, während Carrie den Kurzbericht las. »Er ist labil und sitzt seit dem Mord auf heißen Kohlen. Wenn wir ihn zum zweiten Mal verhaften, kommt er nicht wieder raus. Tu, was du am besten kannst, Carrie: Rede.«
Herbst 2008
S ie wollte gerade gehen, da rief Max sie noch einmal zurück. Sie drehte sich um und sah ihn erwartungsvoll an. Ob er ihr noch einen Kuss geben wollte?
»Was ist?«, fragte sie stirnrunzelnd, die Arme um den mageren Leib geschlungen.
Er hätte sie so gern umarmt, aber er war unsicher. Vielleicht hatte sie ja schon genug von ihm? Fand sie ihren ersten Kuss womöglich eklig und wollte deshalb keinen zweiten? Vielleicht wäre es das Beste, sie jetzt gehen zu lassen, aber wann würde er wieder eine Gelegenheit bekommen? Er hatte das Gefühl, nicht länger warten zu können.
»Komm her.« Er hielt den Atem an. Da stand sie, vielleicht drei Meter von ihm entfernt, und doch hätten es ebenso gut drei Kilometer sein können. Er glaubte, den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht zu entdecken. Er hatte das Gefühl, die Wärme seiner Lippen verteilte sich im ganzen Körper. Seine Fingerspitzen kribbelten.
»Warum?«, fragte sie mit schiefgelegtem Kopf. Jetzt lächelte sie wirklich.
Wie von unsichtbaren Fäden gelenkt, streckte Max die Arme aus. Sie kam auf ihn zu, und plötzlich hielt er ihre Hände.
Sein Mund war ganz trocken, und seine Finger schlossen sich wie dürre Zweige um ihre weichen Hände. Er öffnete den Mund, doch es kam nichts als ein heiseres Krächzen heraus. Dabei hätte er ihr sagen wollen, warum er sie brauchte, sich aus tiefster Seele danach sehnte, sie ganz dicht neben sich zu spüren. Er sah sie an, schwitzend vor Verlegenheit, weil ihm die Stimme versagte. Sie waren einander so ähnlich, und doch lagen Welten zwischen ihnen.
Ich liebe dich .
Hatte sie die drei Wörter gehört? Hatte er
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