Der fremde Sohn (German Edition)
machen wollte.«
»Im Leben geht es nicht zu wie in der Mathematik, Brody. Für Liebe und Glück gibt es keine Formel.«
Brody beachtete ihren Einwurf nicht. Nach einem tiefen Atemzug fuhr er fort: »Ich bin im vergangenen Herbst nach Denningham gefahren.«
»Was? Warum?«
»Ich wollte herausfinden, warum Max dort weggegangen ist.«
»Aber das wissen wir doch. Es ging ihm darum, gegen uns – gegen mich – zu rebellieren.«
»Das stimmt nicht, Carrie.« Brody dachte an ihr Gesicht, wie er es zum letzten Mal gesehen hatte: frisch, offen und schön. Mit dem Zucken einer Augenbraue oder einem leichten Kräuseln ihrer Lippen konnte sie ihn bis ins Innerste aufwühlen. Er hoffte, dass sie noch immer diese Wirkung besaß. »Ich habe mit einigen von Max’ … Klassenkameraden gesprochen.« Das Wort ›Freund‹ kam ihm nicht über die Lippen.
»Ach?«
Da war es! Der Hoffnungsschimmer in ihren Augen, die Sehnen seitlich an ihrem Hals, die nur hervortraten, wenn sie innerlich angespannt war, die kindliche Geste, mit der sie die Hände vor der Brust verschränkte. Er wusste, es war alles noch da. Wieder streckte er die Hand aus und berührte sie.
»Er war dort nicht glücklich, Carrie.«
»Ja, und?«
»In einem Gespräch mit dem stellvertretenden Schulleiter habe ich erfahren, dass Frau Dr. Jensen aufgrund von Stress dauerhaft krankgeschrieben wurde. Der jetzige Leiter nahm kein Blatt vor den Mund und erzählte mir, dass es seit etwa zehn Jahren gravierende Probleme an der Schule gab. Er hat jetzt die Aufgabe, dort für Ordnung zu sorgen.«
»Aber Frau Dr. Jensen war so … nett.«
»Aber unfähig«, entgegnete Brody.
»Das sagt noch nicht viel über Max und warum er von Denningham wegwollte, Brody.«
»Er war abgrundtief unglücklich, Carrie. Ich bin sicher, dass er gemobbt wurde.«
»Nein … nein, das ist nicht –«
»Und an der Milton Park lief es nicht anders. Auch dort haben sie ihm das Leben schwergemacht. Aber gegen die Straßenbanden kommt keiner an.«
»Und das hast du gewusst? «
Brody zündete sich noch eine Zigarette an. Er hätte am liebsten die ganze Packung hintereinander weggeraucht, sich dann eine neue gekauft und immer so weitergemacht, bis seine Lunge versagte und er tot umfiel. »Ja«, sagte er und stieß den Rauch aus. Die Scham überwältigte ihn. »Ich habe es gewusst.«
Januar 2009
E s war in der Englischstunde, als Max plötzlich bewusst wurde, dass Dayna das Ding vertrieben hatte, das ihn sein Leben lang gequält hatte. Er erkannte auch, dass es dieses Ding war – die unaussprechliche, furchtbare und unüberwindliche Macht –, das ihn zu dem gemacht hatte, was er war.
Anders.
Es gefiel ihm nicht, dass Dayna in diesem Schulhalbjahr zufällig neben Shane saß. Dabei konnte er dem Jungen noch nicht einmal vorwerfen, dass er ihn drangsalierte. Er war sogar einer der wenigen Mitschüler in diesem Jahrgang, die ihn bislang weder geboxt noch beklaut noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit verhöhnt und fertiggemacht hatten.
Doch dass Shane schon wieder den Arm auf die Rückenlehne von Daynas Stuhl gelegt hatte, war fast noch schlimmer als Mobbing.
Max, der es nicht länger ertragen konnte, stand auf. »Ich muss mal zur Toilette, Sir.«
»Setz dich, Quinell«, fuhr Mr Lockhart ihn barsch an, obwohl das sonst gar nicht seine Art war.
Im neuen Schuljahr weht eben ein anderer Wind, dachte Max trotzig und verließ den Klassenraum, ohne den Protest des Lehrers zu beachten. Als er an Shane vorbeikam, fegte er mit einer raschen Handbewegung dessen Arm von der Stuhllehne und flüsterte ihm ins Ohr: »Halt dich verdammt noch mal von meiner Freundin fern.«
Kurz darauf lehnte er mit zitternden Knien an der graffitiverschmierten Wand der Toilettenkabine. Gegen das, was er gerade fertiggebracht hatte, wäre eine Tracht Prügel von Shane und seinen Kumpeln gar nichts. Nach all den Monaten des gegenseitigen Umgarnens hatte er Dayna endlich zu verstehen gegeben, dass sie wirklich ein Paar waren.
»Was sollte das vorhin eigentlich?«, fragte Dayna, öffnete die Packung Räucherlachs, die Max von zu Hause mitgebracht hatte, und schnupperte daran.
Keiner von beiden hatte den Vorfall erwähnt, seitdem sie die Klasse verlassen hatten und in den Heizungsraum gegangen waren, um etwas zu essen. Da es seit einiger Zeit zu kalt war, um sich an den Bach zu setzen, hatte Max vorgeschlagen, sich am Abstellraum des Hausmeisters vorbei in den warmen Heizungskeller zu schleichen. Bei ihrem
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