Der fremde Sohn (German Edition)
Schule denken musste.
Vergangenheit
A ls Reality Check zum ersten Mal gesendet wurde, arbeitete Carrie Kent erst seit drei Jahren beim Fernsehen – anfangs als Nachrichtenmoderatorin, dann als Co-Moderatorin bei Crime Hits, einer Sendung im Spätprogramm, die die Polizei live bei Festnahmen zeigte. Dabei lernte sie Dennis kennen. Nachdem sie ein wenig Erfahrung gesammelt hatte, wollte sie weiterkommen und stellte dem Sender ihr neues Showkonzept vor. Die Verantwortlichen griffen die Idee begeistert auf und fragten sich, warum nicht schon eher jemand darauf gekommen war.
Sie waren überzeugt, dass Carries Name bald in aller Munde sein werde, und versprachen, sie ganz groß rauszubringen. Sie sollte die bekannteste Showmasterin mit den höchsten Einschaltquoten aller Zeiten für eine Frühshow werden, und das wurde sie auch, in rasantem Tempo. Niemals kam ihr der Gedanke, dass der Preis, den sie für ihren Ruhm zahlte, weit höher sein könnte als ihre astronomischen Gagen.
Am 3. September 1999 ging Reality Check zum ersten Mal auf Sendung. Ursprünglich war die Show auf drei Monate angelegt, doch sie wurde so populär, dass man sie nicht wieder absetzte. Wenn Carrie Urlaub machte oder krank war, wurden Wiederholungen gezeigt, um die Gier der Zuschauer nach wahren Dramen, Leid und Verbrechen zu befriedigen.
»Wir hatten eben den richtigen Riecher«, brüstete sich Carries beste Freundin und Produzentin Leah. Nach einer Karriere als Journalistin und diversen Tätigkeiten bei Radiosendern und beim Kinderfernsehen war Leah nun Carries rechte Hand. Ob im Studio oder privat, die beiden Frauen waren unzertrennlich. »Entscheidend ist, wie man die Sache präsentiert. Und gerade da liegt Carries Begabung. Ohne sie wäre es keine Show, sondern eine Nachrichtensendung.«
Im Laufe der Jahre hatte Carrie Kent schon jeder Frauenzeitschrift im Land ein Interview gegeben. Doch alle Versuche der Journalisten, Einblick in Carries Privatleben zu nehmen, ihre geheime Seite kennenzulernen, waren vergeblich. Nach ihrer Scheidung von Brody stellten die Zeitungen seitenweise Spekulationen darüber an, ob die Erblindung ihres Exmannes ein Grund für die Trennung gewesen war. Doch Carrie äußerte sich mit keinem Wort dazu. Ihr Schweigen fachte die Berichterstattung über ihr zerrüttetes Privatleben nur weiter an. Unter anderem wurde behauptet, sie habe ihren Sohn in ein Internat abgeschoben, weil sie nicht mehr mit ihm fertig werde.
»So ist das eben, wenn man berühmt ist«, sagte ihr ein älterer Moderator bei ihrem Sender. »Heutzutage reicht es nicht, wenn du einfach bekannt bist. Sie wollen unbedingt herausbekommen, ob du schon mal gekokst oder für Sex bezahlt hast. Sie wollen dich fertigmachen, Carrie. Vergiss das nie.«
Carrie dachte stets an seine Worte, sie wurden ihr Mantra, und jeden Tag aufs Neue bestätigte sich, dass er recht gehabt hatte. Sie wollen mich fertigmachen .
Nachdem die Show vier Jahre lang gelaufen war und Carrie – dank Ablegersendungen und steigender Gagen – genug Geld auf die hohe Kante gelegt hatte, um sich einen eigenen Fernsehsender zu kaufen, beschloss sie, einmal auszuspannen. Sie hatte es wirklich nötig.
»Es ist ja nur für ein paar Tage. Ich will einfach mal allein sein«, erklärte sie Leah am Telefon. Bevor ihre Freundin protestieren konnte, beendete sie das Telefonat und schaltete ihr Handy von Freitagabend bis Mittwochmittag ab. Sie hatte noch keine Ahnung, welche Gäste in ihrer nächsten Show auftreten würden, und es war ihr auch egal. Sie kannte die Auswahl: schwangere Teenager, verprügelte Ehefrauen, untreue Ehemänner, Vermisste, Drogensüchtige, alkoholabhängige Frauen, Ladendiebinnen oder Autoschieber. Die menschliche Schlechtigkeit war grenzenlos. Carrie würde sich nach ihrer Rückkehr kurz briefen lassen.
Eine Stunde lang suchte sie im Internet nach einem Urlaubsziel. Dieses Mal wollte sie weder in ein Fünf-Sterne-Hotel noch irgendwohin, wo man sie erkannte. Eine Flugreise schied daher von vornherein aus. Sie wollte einfach ganz normal sein, das Alleinsein genießen und in langen, tiefen Zügen frische Luft einatmen, ganz ohne Stress, Verbrechen und Gerüchte.
Der größte Teil Großbritanniens kommt also eher nicht in Frage, dachte sie, während sie sich durch die Websites klickte. Doch sie gab nicht auf. Ein Blockhaus am Ufer des Loch Lomond gefiel ihr. Es war noch frei, also buchte sie es unter falschem Namen per E-Mail und versprach, bei ihrer Ankunft bar zu
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