Der fremde Sohn (German Edition)
zahlen.
Bereits die Fahrt war herrlich. Sie hatte einen Jeep gemietet, weil ihr personalisiertes Autokennzeichen zu bekannt war, und das war genau das Richtige. Sie packte Wasser und Proviant in den Wagen und legte die Strecke über die Autobahn ohne Zwischenstopp zurück. Hinter Glasgow machte sie auf einem Parkplatz eine Pause, aß etwas und öffnete das Faltverdeck des Wagens. Es war für schottische Verhältnisse eine warme Nacht mit einem Himmel voller Sterne, unzählige Insekten schwirrten im Scheinwerferlicht, und Carrie genoss es, im Mondschein die gewundene Uferstraße am Loch Lomond entlangzufahren.
Als sie durch das Tor in den Park einbog, herrschte völlige Stille, nur das Brummen ihres Motors war zu hören. Auf dem waldigen Gelände eines großen privaten Landgutes standen acht Blockhütten. Sie hatte Nummer sechs reserviert. Carrie atmete tief durch. Die sauerstoffreiche Luft duftete nach Gras und Blättern. Im Licht der Scheinwerfer konnte sie kaum den unbefestigten Weg zwischen den Bäumen erkennen. Die anderen Hütten schienen unbewohnt zu sein.
»Drei …«, las sie laut, als sie an einem Baum ein Schild entdeckte. Das nächste Schild am Rand einer Lichtung trug merkwürdigerweise die Nummer fünf. Dahinter zeichnete sich ein schlichtes rechteckiges Gebilde aus Baumstämmen und Schindeln gegen die mondbeschienene Wasserfläche ab. Die Vorstellung, einige Tage lang vollkommen allein zu sein, war verlockend und bedrohlich zugleich. Etwas hatte sie zu diesem für sie gänzlich ungewöhnlichen Schritt getrieben, und sie war überzeugt: Wenn sie ihn nicht getan hätte, wäre sie in nächster Zeit schlichtweg zusammengebrochen. Leah hatte die Idee bestimmt gar nicht gefallen, und ihr Agent hatte sich aufgeregt, weil Carrie einige Termine absagen musste. Doch schließlich sah er ein, dass jeder Widerstand zwecklos war, und erklärte, sie würden auch ohne sie zurechtkommen.
»Endlich«, murmelte Carrie und steuerte den Wagen um einen Baum herum auf die Hütte Nummer sechs zu. »Die ist ja hübsch.« Sie schaltete den Motor ab und überlegte, ob sie die Scheinwerfer anlassen sollte, damit sie den Weg zur Haustür fand. Doch dann entschied sie sich dagegen. Im Mondlicht, das vom See gespiegelt wurde, war der Weg zwischen den Bäumen hindurch recht gut zu erkennen. Wie es schien, hatte man von der Veranda an der anderen Seite der Hütte eine erstklassige Aussicht. Ihr Herz machte vor Aufregung einen kleinen Sprung. Fünf volle Tage Einsamkeit. Sie wollte nichts tun als spazieren gehen, nachdenken, schlafen und lesen.
Auf der Treppe vor der Haustür stolperte sie.
»Scheiße!« Ihre Stimme schallte durch den Wald und über das Wasser, ein gänzlich unpassender Laut an diesem friedlichen Ort. Irgendetwas raschelte hinter ihr im Unterholz – ein Fuchs oder ein Dachs? Da sie so kurzfristig gebucht hatte, hatte ihr der Besitzer gemailt, er werde den Schlüssel unter einen Blumentopf neben der Haustür legen. Doch da war kein Blumentopf.
»Verdammt!«, entfuhr es Carrie, und wieder durchschnitt ihre Stimme die nächtliche Stille. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie in die Dunkelheit und entdeckte einen Blumentopf ein Stück entfernt auf der Veranda. Als sie sich an der Wand der Hütte entlangtastete, knarrte das Holz unter ihren Schritten.
Plötzlich fiel etwas auf ihren Kopf – Stöcke und Stangen, und etwas anderes verfing sich in ihren Haaren und blieb an ihren Fingernägeln hängen.
»Verdammt, was ist –«, kreischte Carrie.
Ein Licht ging an. Die Tür wurde geöffnet.
»Wer ist da?«, fragte eine tiefe, energische Stimme.
Verstrickt, wie sie war, fuhr Carrie herum und sah die Gestalt des Mannes.
»Was?« Sie zog und zerrte weiter. »Wer sind Sie? Was machen Sie in meiner Hütte?«
Sein Lachen klang warm, aber das beruhigte sie keineswegs. Sie hatte nicht damit gerechnet, hier überhaupt jemanden anzutreffen. Sie wollte allein sein. Vollkommen allein.
» Ihre Hütte?« Er kam näher.
Carrie blinzelte in das Licht hinter ihm. Sie zog sich eine Art Draht oder Schnur aus den Haaren. Plötzlich schrie sie »Au!« und steckte den Finger in den Mund, weil sie sich an etwas Spitzem gestochen hatte.
»Dann wollen wir doch mal schauen, was ich da gefangen habe.« Der Mann trat noch näher. Er war etwa in ihrem Alter, und Carrie stellte unwillkürlich fest, dass er gut aussah.
»Gefangen?« Sie schmeckte Blut. Hatte er sie erkannt?
»Sie haben sich in meiner Angelausrüstung verheddert.
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