Der fremde Sohn (German Edition)
nicht. Wenn sie ehrlich war – was ihr ausgesprochen schwerfiel –, musste sie zugeben, dass sie seit dem Tag im letzten Sommer, als Max Denningham verließ, kein Interesse mehr für seine Schulangelegenheiten aufgebracht hatte. »Nun ja, früher jedenfalls«, fügte sie hinzu. »Wie es auf der … neuen Schule war, weiß ich nicht.«
»Du meinst wohl, du wolltest es nicht wissen.«
Carrie schluckte. »So ist das nicht«, stieß sie hervor. Nach all den Jahren der Trennung konnte sie Brody gegenüber keinesfalls eingestehen, dass sie eine lausige Mutter war.
»Es war Max’ Entscheidung, zur Milton Park zu wechseln, Carrie. Ich sagte ja schon, im Internat war er unglücklich.«
»Ist er jetzt etwa glücklich? Was hat ihm diese neue Schule gebracht?« Sie fühlte sich im Recht.
Brody ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: »Als Max sein Handy bei mir vergessen hat, fing es mitten in der Nacht an zu piepen. Es machte mich wahnsinnig. Er hatte mehrere SMS bekommen.«
Carrie versuchte, sich zu konzentrieren, obwohl ihr das in den letzten Tagen so schwerfiel.
»Sein Handy war ein anderes Modell als meins, darum wusste ich nicht genau, welche Tasten ich drücken musste.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber ich habe es dann doch geschafft. Ich muss zugeben, ich war einfach neugierig und habe mir die Nachrichten auf seiner Mailbox angehört.«
»Und?«
»Sie waren nicht erfreulich.«
»Worum ging es? Und von wem waren die Nachrichten?«
Brody atmete tief durch und antwortete: »Von ein paar durchgeknallten Kids. Du weißt schon, verletzende Bemerkungen, Beleidigungen, Drohungen.«
Carrie war sprachlos. Wollte er ihr die ganze Wahrheit ersparen? »Nein, weiß ich nicht«, sagte sie. »Was für Drohungen? Warum hast du Dennis nichts davon gesagt?«
Wie erwartet, reagierte Brody mit Abwehr. »Habe ich doch. Ich habe ihm eine Beschreibung der Jungen gegeben und die Nummer des letzten Anrufers. Den habe ich nämlich zurückgerufen. Als der Junge sich meldete, tat ich so, als hätte ich mich verwählt. Ich hatte ihn geweckt, und er war zu verschlafen, um Verdacht zu schöpfen, als ich ihn bat, seine Telefonnummer zu wiederholen. Die habe ich mir dann aufgeschrieben.«
»Wieso konntest du ihn beschreiben? Um Himmels willen, Brody, das könnte Max’ Mörder sein.« Carrie spürte, wie trotz der Beruhigungsmittel die Erregung in ihr hochstieg. Der Arzt hatte gesagt, dass die Pillen den Schmerz nur dämpften, aber nicht völlig betäubten.
Brody trank einen Schluck Tee. Verzögerungstaktik, dachte Carrie. Plötzlich war alles wieder da, sein Gesichtsausdruck, die Art, wie er eine Augenbraue hochzog, die Falten auf seiner Stirn. Sie waren tiefer geworden in all den Jahren, doch sein Kiefer zuckte noch genauso nervös wie damals, als er ihr endlich eröffnet hatte, dass er erblindete. »Über so etwas kannst du doch nicht einfach hinweggehen, Brody.«
»Ich werde dir sagen, wie es war. Die Schule hat mich ein paarmal angerufen, weil Max den Unterricht geschwänzt hatte. Er hatte die Telefonnummern von uns beiden angegeben, und weil du anscheinend nicht zu erreichen warst, haben sie sich an mich gehalten. Jedenfalls habe ich Max darauf angesprochen, und wir haben auch über die Nachrichten auf seinem Handy geredet. Du kannst mir also nicht vorwerfen, ich hätte nichts unternommen.«
Carrie hielt den Atem an. »Und was hat er gesagt?«
»Er hat es runtergespielt und so getan, als sei alles in Ordnung. Die Jungs, die die Mitteilungen hinterlassen hatten, seien Kumpel von ihm, und das Ganze sei nur ein Scherz gewesen.« Brody erhob sich und folgte der ausstrahlenden Wärme zum Kamin. »Er war stinksauer, weil ich seine Mailbox abgehört hatte, auch als ich ihm erklärte, wie es dazu gekommen war. Und er hat gesagt, Schwänzen sei nichts Besonderes und alle täten es.«
»Aber wer –«
»Er hat ein paar Namen genannt. Als er sich wieder beruhigt hatte, konnten wir miteinander reden. Schließlich erzählte er mir von dem Café, in dem sie immer herumhingen. Ich habe Max die Geschichte nicht ganz abgekauft, deshalb bin ich ein paarmal hingefahren. Und weil ich allein nicht viel ausrichten konnte, nahm ich Fiona mit, damit sie mir die Jungs beschrieb. Ich wollte alles in Ordnung bringen. Den guten Vater spielen, weißt du. Ich habe mir sogar ein Buch über Mobbing gekauft, weil ich dachte, ich könnte das für ihn regeln.«
Carrie brachte kein Wort hervor, sondern starrte ihren Exmann nur an,
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