Der fremde Sohn (German Edition)
unschlüssig, ob sie ihn in die Arme nehmen oder ihm den Schürhaken an den Kopf werfen sollte. Sie tat keins von beidem, sondern saß nur mit offenem Mund da. Dann sah sie, dass Brody weinte. Zuerst war es nur ein feuchter Rand an seinem unteren Augenlid, doch dann liefen ihm tatsächlich Tränen über die Wangen. Brody wischte sie nicht ab.
Carrie runzelte die Stirn. Ihre Finger prickelten, ihr Herz raste.
»Du hast dir ein Buch gekauft?« Sie wollte ungläubig klingen, doch es gelang ihr nicht.
»Fiona hat es mir vorgelesen. Vieles darin schien auf Max zu passen.«
»Und dann hast du diesen Jungs, die Max bedrohten, nachspioniert?« Wieder hörte sich ihre Stimme gegen ihren Willen ausdruckslos und sachlich an, doch in ihr brodelte es immer stärker. Sie hätte schreien mögen.
Brody nickte nur.
Carrie stand auf. Sie sah, wie er zusammenzuckte, als sie mit schweren Schritten zum Kamin ging. Anfangs war ihre Stimme nur ein Flüstern. »Warum hast du nicht mehr unternommen? Warum hast du nicht den Schulleiter verständigt? Warum hast du mich nicht verständigt?« Die letzten Worte brüllte sie heraus.
»Weil du immer zu beschäftigt warst«, entgegnete Brody kühl. »Es gab keinen Grund anzunehmen, dass sich daran etwas geändert hätte. Außerdem schien sich Max’ Situation zu beruhigen. Er fand eine Freundin, und ich dachte, er sei glücklich.«
Carrie zögerte. Ein Schmerz zog durch ihren Bauch. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Es gibt nichts zu sagen. Dafür ist es ohnehin zu spät.«
Sie ließ sich neben Brody auf den warmen Kaminvorleger sinken. Als Brody es spürte, ließ er sich ebenfalls nieder.
So saßen sie beide schweigend da. Carrie starrte in die orangeroten Flammen, die um die Holzscheite züngelten, und Brody spürte die Hitze auf seinem Gesicht. Dennoch waren sie wie eingefroren, und erst ein Anruf von DCI Masters auf Brodys Handy befreite sie für eine Weile von ihrer überwältigenden Trauer.
Dennis hatte zuerst bei Carrie in London angerufen. Die Haushälterin erzählte ihm jedoch, Carrie sei zu ihrem Landhaus gefahren. Genervt verdrehte er die Augen und wählte ihre Handynummer. Als sich die Mailbox einschaltete, hinterließ er die Nachricht, es habe eine Festnahme gegeben. Er hätte es Carrie lieber persönlich mitgeteilt, aber er hatte die Festnetznummer ihres Landhauses nicht. Bei einem Whisky aus dem Notvorrat wartete er kurze Zeit später darauf, dass Max’ Vater ans Handy ging.
»Landhaus, meine Fresse«, knurrte er. Er musste wieder an sein mickriges Reihenhaus denken. »Nun mach schon …«
Den Jungen hatten sie schon früher am Tag aufs Revier geholt. »Ach du meine Güte«, bemerkte Jess düster, als sie durch den Einwegspiegel spähte und ihn in einem fleckigen Bademantel und Arbeitsstiefeln dort sitzen sah.
»Der hat wahrscheinlich noch keinen einzigen Tag in seinem Leben gearbeitet«, sagte Dennis auf dem Rückweg zu seinem Büro, wo sie über die Ergebnisse der Vernehmung sprechen wollten.
»Wenn ich seine Mutter wäre, würde ich –«, begann Jess, aber Dennis unterbrach sie: »Was? Ihm durchs Haar strubbeln? Ich glaube, nicht einmal Sie könnten so einen Sprössling zustande bringen, DI Britton.« Dennis wandte sich ab, drehte sich dann aber blitzschnell wieder um. »Aha, erwischt«, sagte er.
Jess wackelte mit ihrem ausgestreckten Mittelfinger und verzog das Gesicht. »Also«, sagte sie dann, »was haben wir?« Lächelnd zog sie den Saum ihres Rocks herunter, als sie sich auf der Tischkante niederließ. Sie hatte Dennis dabei ertappt, wie er auf ihre Beine starrte. »Guter Tag für uns, was, Sir?«
»Das kann man wohl sagen. Wenn wir ihn festnageln können, bin ich der glücklichste Mann auf Erden, Jess.« Er richtete den Blick auf ihre Knie, die, sosehr Jess auch zerrte, immer wieder unter dem Rocksaum zum Vorschein kamen. »Auf dem Messer wurden Fingerabdrücke von einer zweiten Person gefunden. Es gab da wohl eine Verwechslung oder so, deshalb hat es eine Weile gedauert, aber jetzt liegen die Ergebnisse endlich vor.«
»Ich weiß. Ob Sie’s glauben oder nicht, ich kann auch E-Mails lesen.«
Dennis schwieg einen Augenblick lang. »Wir haben unseren Mann. Wenn man ihn denn so nennen kann.«
Jess runzelte die Stirn. Sie stand auf, strich ihren Rock glatt und begann, auf und ab zu gehen.
Dennis bemerkte ihre Skepsis, beachtete sie jedoch nicht weiter, sondern fuhr fort: »Aufgrund der Übereinstimmung mit diesen Fingerabdrücken haben wir
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