Der fremde Sohn (German Edition)
vielleicht eine Kleinigkeit aus der Minibar mit ihm zu trinken. Ihr kamen die Tränen. Ohne ein weiteres Wort fädelte sich Fiona in den Verkehr ein. Sie verließ die Autobahn an der nächsten Abfahrt und fuhr in Gegenrichtung wieder auf. In weniger als einer halben Stunde konnten sie bei ihr zu Hause sein.
Es geschah, als sie Brody zu ihrem kleinen Schreibtisch unter dem Fenster führte, auf dem ihr Telefon, der Computer und ein Foto in einem Silberrahmen standen und einige Akten von der Universität lagen: Plötzlich wurde ihr bewusst, was – oder besser gesagt, wer – einer Annäherung zwischen ihr und Brody im Weg stand, und sie wünschte fast, dieser Jemand wäre nie geboren worden.
»Ich rufe wegen meines Sohnes an, Max Quinell«, sagte Brody am Telefon. »Ja, ja, ganz recht. Er tritt bei dem Konzert auf. Könnten Sie ihm bitte ausrichten, dass sein Vater auf jeden Fall kommen wird, um ihn zu hören? Vielen Dank. Und wünschen Sie ihm viel Glück.«
Glück, dachte Fiona und legte das Foto von Brody mit der Bildseite nach unten auf den Tisch. Damit er sie wahrnahm, brauchte sie mehr als Glück.
Jetzt, Jahre später, als Fiona in gedrückter Stimmung neben dem Telefon saß und auf Brodys Anruf wartete, fragte sie sich, was sich seit Max’ Tod eigentlich geändert hatte. Stand er inmitten dieses schrecklichen Chaos nicht noch immer zwischen ihr und Brody?
März 2009
D ayna betätigte die Toilettenspülung und hob die blau-weiße Schachtel auf, deren Inhalt auf dem Boden verstreut lag. Sie wischte sich mit Toilettenpapier die verweinten Augen, ohne darauf zu achten, dass sie ihre Wimperntusche verschmierte, dann putzte sie sich die Nase und atmete tief durch. Es konnte ein Anfang sein oder ein Ende, dachte sie, während sie die Gebrauchsanleitung wieder in die Schachtel stopfte, sie unter ihrer Strickjacke versteckte und das Badezimmer verließ.
In ihrem Zimmer warf sie sich auf das zerwühlte Bett. Dort blieb sie eine Weile lang liegen, starrte an die Decke, ließ den Blick über die Risse im Putz wandern und fragte sich, ob diese ein Abbild ihres kaputten Lebens waren. Manche Menschen sind eben als Glückskinder geboren und andere nicht, dachte sie.
Sie wälzte sich auf die Seite, öffnete ihr Nachtschränkchen und verstaute die Schachtel hinter dem Krimskrams, der sich im Laufe der Zeit dort angesammelt hatte. Kaputte PEZ -Spender, eine leere Kleenexschachtel, ein paar Bücher, Gratis- CD s aus Packungen mit Frühstücksflocken, die sie den anderen weggeschnappt hatte, Ohrhörer mit völlig verknoteten Kabeln, ein Plastikbeutel mit Sammelkarten, eine Sammlung von Plastiktieren, die in ihrer Grundschulzeit der Renner waren und rege auf dem Schulhof getauscht wurden, und ein paar alte Döschen mit Lidschatten in lächerlichen Pink- und Türkistönen, die sie um nichts in der Welt mehr getragen hätte. Hinter diesem Sammelsurium verbarg sich nun etwas, das so wenig kindlich war wie sonst nichts in ihrem Leben.
Nach kurzem Überlegen und einem prüfenden Blick auf die fest verschlossene Zimmertür holte Dayna das Plastikstäbchen aus der Schachtel, dann schloss sie den Nachtschrank wieder. Sie zog die weiße Plastikhülle ab und starrte auf das längliche Ding, das aussah wie ein Stift. Sie hatte ganz bestimmt nichts falsch gemacht, schließlich war sie nicht dumm, und sie hatte die Gebrauchsanweisung gelesen.
Halten Sie die saugfähige Spitze für fünf bis acht Sekunden in Ihren Urinstrahl .
Am schlimmsten war das Warten gewesen, bis sich nach drei Minuten das Ergebnis in den beiden Sichtfenstern zeigte. Mit zitternden Händen, den Blick vom vielen Weinen verschleiert, hatte sie bang auf den kleinen Stab gestarrt. Endlich erschien in dem einen Sichtfenster ein einzelner blauer Strich. Ihr Herz pochte wie rasend. Das bedeutete, dass sie alles richtig gemacht hatte – zum ersten Mal in ihrem Leben, fügte sie im Stillen hinzu.
Doch gleich darauf, als die Feuchtigkeit das geheimnisvolle Material im Inneren des Plastikstabs durchtränkt hatte, bildete sich langsam eine zweite Linie. Ein weiterer blauer Strich bedeutete, dass sie nicht schwanger war. Ein Kreuz dagegen wäre das Zeichen dafür, dass sie es doch war. Die Sekunden dehnten sich zu Stunden.
Angestrengt blinzelnd starrte Dayna auf das Ergebnis. Schwanger oder nicht?, hatte sie sich immer wieder gefragt, bevor sie den Test in der Apotheke gekauft hatte. Sie hatte keine Ahnung. Dabei gab es angeblich Frauen, die es vom Augenblick der
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