Der fremde Sohn (German Edition)
einem unerfreulichen Morgen. Es war noch nicht richtig hell, und der Frühlingstag sah eher nach November aus.
Max zuckte mit den Schultern. Zumindest schien es Carrie so, doch vielleicht war es auch nur eine unwillkürliche Bewegung. Sollte sie nachfragen, was los war? Als sie sich Kaffee einschenkte, verschüttete sie ein wenig davon auf der Arbeitsplatte. Während sie den Kaffee aufwischte, sah sie vor ihrem inneren Auge Marthas tadelnden Blick.
»Was gibt’s Neues?« Den Becher in einer Hand, legte Carrie ihrem Sohn den anderen Arm um die Schultern. Er trug noch seinen Morgenmantel, der ein wenig nach Schlaf roch und nach Waschmittel, hauptsächlich jedoch nach halbwüchsigem Jungen. Als sie Max an sich zog, versteifte er sich. Wie dünn du geworden bist, dachte Carrie, die sein Schulterblatt an ihrem Unterarm spürte. Das lag alles nur an dieser furchtbaren Schule.
»Nicht«, sagte er.
»Was nicht? Soll ich dich nicht in den Arm nehmen?« Sie ließ ihren Sohn los und strubbelte ihm durchs Haar wie früher, als er noch kleiner war.
»Was soll das?« Er duckte sich unter ihrer Hand weg.
»Max …« Plötzlich wurde ihr klar, dass sie nicht wusste, wie sie ihn erreichen sollte. Als er acht war, hatte sie ihn ins Internat gegeben, und die Ferien hatte er entweder in der Obhut von Kindermädchen auf Charlbury oder bei seinem Vater verlebt. Sie hatte in den letzten Jahren einfach viel zu wenig Zeit mit ihm verbracht. »Wenn dich etwas bedrückt, kannst du es mir sagen.«
Er fuhr herum, und Carrie sah seine roten, verquollenen Augen und die Nase, die vom vielen Schnäuzen ganz wund war. »Hol mich ruhig in deine blöde Show. Dann können die Zuschauer entscheiden, was du mit deinem Sohn, diesem hoffnungslosen Fall, anstellen sollst.«
»Das ist doch al–«
»Ach ja? Ist es wirklich so albern, Mum?«
Das letzte Wort traf sie mitten ins Herz, und ihr wurde bewusst, dass er sie fast nie so nannte.
»Ich find’s überhaupt nicht albern«, beharrte er. »Überleg doch mal, dann könnten wir eine ganze Stunde zusammen verbringen.«
»Was soll das heißen?« Sie hätte ihm endlose Vorträge darüber halten können, was für ein Luxusleben er dank ihres Jobs führte und dass sie sich nur deshalb alle Wünsche erfüllen konnten, weil sie Tage, manchmal sogar Wochen ohne Pause arbeitete.
»Nichts.« Max beugte sich tief über seine Müslischale und rührte in der Milch herum, in der brauner Puffreis schwamm. Seine Brust hob und senkte sich ein paar Mal, als würde er schluchzen, doch es kam kein Laut.
Er tat Carrie entsetzlich leid, aber gleichzeitig war sie unglaublich wütend auf ihn. »Als du noch in Denningham warst, hatten wir nie solchen Ärger.«
»Das nennst du Ärger?«, fragte er und blickte flüchtig auf.
Er war ihr Sohn, ihr Schatz, doch in diesem Moment schien es ihr, als verachte er sie. Scheinbar unbeteiligt löffelte er weiter, aber sie wusste, dass tief in ihm etwas schwärte und wuchs und an ihm fraß. Es machte ihr Angst, weil sie dagegen machtlos war.
»Sag es mir doch, Liebling. Sag mir, was dich bedrückt.« In diesem Augenblick hasste sie sich – für den Ton, den sie anschlug, und weil es ihr nicht gelang, zu Max durchzudringen. Es schien, als sei ihr die Mutterrolle unbemerkt entglitten. »Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes?«
»Nein, keine Sorge. Es ist nichts Schlimmes.« Max löffelte das Müsli so hastig in sich hinein, dass ihm die Schokomilch über das Kinn lief. Carrie hätte es ihm am liebsten abgetupft, doch Max wischte sich schon mit dem Ärmel über den Mund.
Seine schlechten Manieren brachten Carrie auf einen Gedanken, und sie fragte: »Was macht die Schule?«
»Na ja, viel Arbeit«, erwiderte er achselzuckend.
»Tatsächlich?« Vielleicht gab es doch noch Hoffnung. In ihren kühnsten Träumen malte sie sich aus, wie Max seinen Abschluss an der öffentlichen Schule mit Bestnoten schaffte.
»Ja. In Englisch nehmen wir gerade Romeo und Julia durch.« Max schnaubte leise, als läge darin ein versteckter Witz, den Carrie beim besten Willen nicht erkennen konnte.
»Schön, aber jetzt solltest du dich beeilen, sonst kommst du noch zu spät.« Belassen wir es lieber dabei, dachte sie.
»Mum«, sagte Max gedehnt, während er aufstand und ihr die Hände auf die Schultern legte. Ein leicht verschlagenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und die verquollenen Augen wurden schmal. Carrie dachte schon, er wolle ihr einen Kuss auf die Wange geben. »Wir haben
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