Der fremde Sohn (German Edition)
triumphierenden Blick zu Carrie ließ sich Daynas Mutter von Leah hinausführen.
Zehn Minuten später war Leah wieder da. »Ich habe sie mit einem von den Wachleuten in den Warteraum gesetzt und ihm eingeschärft, dass sie sich nicht von der Stelle zu rühren hat, bis jemand sie holen kommt«, flüsterte sie. »Die sind wir fürs Erste los.«
Carrie war ihr dankbar, denn sie musste sich voll und ganz auf Dayna konzentrieren, wenn sie ihr die Wahrheit entlocken wollte. Wenn das Mädchen die Ereignisse in allen Einzelheiten schilderte, würde das dem Gedächtnis etwaiger Zeugen auf die Sprünge helfen – es musste doch jemanden geben, dessen Sohn mit Blutspuren an der Kleidung nach Hause gekommen war, ein Mädchen, dessen Freund niedergeschlagen und verstört gewirkt hatte. Und Carrie selbst brauchte den detaillierten Bericht über das Verbrechen für ihren eigenen Seelenfrieden. Denn dass sie nicht wusste, wie der letzte Morgen im Leben ihres Sohnes verlaufen war, brachte sie allmählich um den Verstand.
März 2009
D ayna saß bei ihrem Arzt im Behandlungszimmer. Während sie ihm stammelnd zu erklären versuchte, was geschehen war, sah er kaum von seinem Computerbildschirm auf.
»Mit so etwas habe ich häufig zu tun«, bemerkte er seufzend. »Du wirst nicht die Letzte sein.«
»Womit?«
»Mit einer ungewollten Schwangerschaft. Manchmal kommen an einem Tag mehrere solcher Fälle rein.«
»Ach ja?« Dachte er, es könne sie trösten, dass sie nicht die Einzige war? Dass sie nicht anders war als andere?
Endlich wandte der Arzt sich ihr zu und schaute sie an. Er war alt, bestimmt über sechzig, dachte Dayna, und es schien ihm ziemlich gleichgültig zu sein, ob sie ihr Baby bekam oder nicht. »Bist du sicher, dass du die Abtreibung willst?«
»Natürlich. Warum wäre ich sonst hier?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Ich meine nur, weil du die ganze Zeit von dem ›Baby‹ sprichst.«
Dayna stutzte und dachte nach. Rosig und nach Puder duftend, so wie Lorrell vor nicht allzu langer Zeit. Ein strampelndes kleines Bündel in winzigen Kleidern. Tastende Fingerchen und lange Wimpern über blauen Augen. Die weiche pulsierende Stelle auf dem Köpfchen und das zufriedene Glucksen, wenn das Baby trank.
»Ich bin sicher«, sagte sie.
Es könne gut sein, dass kurzfristig ein Termin frei werde, weil jemand absage, erklärte ihr die Schwester. »Viele Mädchen bekommen kalte Füße«, sagte sie und fügte hinzu: »Damit der Doktor seine Zeit nicht verschwendet, vergeben wir die Termine dann anderweitig. Bist du einverstanden, dass wir dich auf eine Warteliste setzen und gegebenenfalls anrufen?«
Dayna nickte und unterschrieb die Formulare. Kurzfristig war ihr lieber, als tage- oder wochenlang auf die Operation zu warten. »Es ist doch eine Operation, oder?«, fragte sie die Schwester zaghaft.
»Ja, sicher. Du schläfst ein und bekommst gar nichts davon mit. Und wenn du aufwachst, ist das Baby nicht mehr da.«
Nicht mehr da, dachte Dayna. So unverhofft, wie es in ihr Leben gekommen war, würde es wieder daraus entfernt, nur ohne die Leidenschaft und Liebe, die sie und Max empfunden hatten, als es entstand.
Sie wollte weder ihrer Mutter noch Kev etwas davon sagen, und Lorrell hatte das Baby nie wieder erwähnt. Wenn alles gutging, konnte sie am selben Tag wieder nach Hause, hatte die Schwester gesagt. Ihre Mutter würde gar nicht wissen, wo sie gewesen war, und auch nicht danach fragen.
»Das wär’s dann, Kleine.« Die Schwester hielt ihr die Tür auf. Draußen warteten noch vier weitere Mädchen. Sie starrten Dayna nach, als sie hinausging.
Sie spielte mit ihrem Handy herum und überlegte, ob sie Max eine SMS schicken sollte, kam jedoch zu dem Entschluss, dass es nichts mehr zu sagen gab. Er wollte, dass sie abtrieb, und sie würde es tun. In der Schule gingen sie einander so sorgsam aus dem Weg, dass sie es darin zur Perfektion gebracht hatten. Manchmal bekam Dayna mit, wie Max von den üblichen Unruhestiftern attackiert wurde, und auch sie selbst musste sich, jetzt ohne Max’ Unterstützung, gegen Anfeindungen zur Wehr setzen. Sie lernte eifrig und war noch immer fest entschlossen, die Schule am Ende des Jahres mit ein paar guten Noten abzuschließen. Wenn sie einen Platz am College bekam, konnte sie sich später einen Job suchen und aus der Siedlung fortziehen. Ironischerweise interessierte sie sich neuerdings für Kinderpflege, und sie träumte davon, bei einer reichen Familie als Kindermädchen zu
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