Der fremde Sohn (German Edition)
arbeiten und mit ihnen in ferne Länder zu reisen. Sie hätte ihr eigenes Zimmer und bekäme ein Auto, um die Kinder zur Schule zu bringen. Dann wäre sie glücklich, würde einen netten Mann kennenlernen und ihrer Mutter regelmäßig ein bisschen Geld für Lorrell schicken. Das alles war möglich, wenn sie sich anstrengte, lernte und das Baby wegmachen ließ.
»Ich hoffe, ihr habt alle euren Aufsatz mehr oder weniger fertig. Bis zu den Osterferien sind es nur noch ein paar Tage, und bis dahin hätte ich gern die Früchte eurer Arbeit auf dem Tisch, um sie in den Ferien zu korrigieren.«
Als es klingelte, wurden siebenunddreißig Stühle mit lautem Scharren zurückgeschoben, und die Schüler stürmten zur Tür. Alle bis auf zwei.
»Meiner ist fertig, Sir.«
»Danke, Dayna. Ich bin wirklich beeindruckt von deinen Leistungen in diesem Jahr. Du bist auf dem besten Weg zu einer guten Note.«
»Hier, bitte, Sir.«
Als ein Aufsatz auf ihrem landete, drehte sich Dayna um und sah gerade noch, wie sich Max seinen Rucksack auf die Schulter schwang. Fast hätte sie ihn ins Gesicht bekommen.
»Du bist auch fertig, Max?«, fragte Mr Lockhart, doch der Junge ging wortlos hinaus.
Dayna nickte ihrem Lehrer zu und folgte Max – langsam, um ihn nicht einzuholen, wie sie es sonst getan hätte.
Das Leben war ein Trauerspiel, und seine Gewinne blieben auch aus. Max betrachtete den Kartonstapel in seiner Bude. Es hatte keinen Sinn, die Sachen zu verkaufen, da er reichlich Taschengeld bekam und das Geld nicht nötig hatte. Er wollte Pläne schmieden, doch seit seiner Trennung von Dayna konnte er sich kaum noch zu etwas aufraffen. Da stand er nun und ließ die Arme hängen. Ihm war kalt, und er konnte nirgends länger als eine Minute ruhig sitzen oder stehen.
Max hatte gehofft, dass sie nach dem Erlebnis im Keller noch enger miteinander verbunden sein würden, und es war ein vernichtender Schlag für ihn gewesen, dass Dayna stattdessen Klatsch und Tratsch und gemeine Lügen über ihn verbreitet hatte, die natürlich von den anderen in seiner Jahrgangsstufe – nein, von der ganzen verdammten Schule – genüsslich breitgetreten wurden.
Bei all dem Gerede konnte Dayna unmöglich so tun, als wisse sie von nichts. Und das Unerträglichste an der ganzen Sache war, dass sie es nicht für nötig gehalten hatte, sich bei ihm zu entschuldigen oder sich mit ihm, wenn schon nicht zu versöhnen, dann doch wenigstens auszusprechen. Trotz allem, was sie miteinander erlebt hatten, war er ihr scheißegal. Letztendlich war sie doch wie alle anderen.
Das hätte er sich eigentlich denken können. Jeden Tag seines Lebens, bis Dayna auftauchte, hatte das Ding es ihm ins Ohr geflüstert: Du bist anders, Max. Du bist ein Sonderling. Ein Freak. Und weißt du was? Alle hassen dich.
Max ließ sich auf den Autositz fallen und steckte sich eine Zigarette an. Der Rauch füllte die gewaltige Leere in seinem Inneren aus. Weil er kalte Finger hatte, tippte er an die Glutspitze. Es tat nicht weh, aber es wärmte auch nicht. Das Verrückte an der ganzen Sache war, dass er sich im Grunde nach seiner Mutter sehnte.
Seine Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Es war zu Beginn eines Schuljahres, als er zehn oder elf war und von Charlbury nach Denningham zurückkehren sollte. Kurz zuvor hatte Carrie das riesige Anwesen erworben, und er hatte längst noch nicht jeden Winkel des Grundstücks erkundet, da waren die Ferien plötzlich zu Ende. Sein Koffer war schon gepackt, aber er wollte nicht zurück in die Schule. Als er weinte, zog ihn seine Mutter an sich und flüsterte ihm tröstende Worte ins Ohr, als ob sie tatsächlich traurig sei, dass sie ihn gehen lassen musste, und sich nur nicht traute, es zuzugeben. Er schloss die Augen, schmiegte sich an sie, ganz versunken in ihren Duft, ihre Berührung, ihre Worte, und hoffte, die Erinnerung werde das ganze Schulhalbjahr anhalten.
»Wenn du erst dort bist, sieht alles ganz anders aus, Maxie. Dann bist du wieder mit deinen Freunden zusammen und fügst dich ein, als wärst du nie fort gewesen.«
Wie gern hätte er ihr gesagt, dass er sich nicht einfügen würde und dass er keine Freunde hatte. Was wäre geschehen, wenn er damals mit dem Fuß aufgestampft und verlangt hätte, dass sie etwas gegen die anderen Kinder unternahm, die ihn verprügelten, gegen die Lehrer, die seine halbherzigen Klagen ignorierten, und gegen die langen Nächte, in denen er in seinem Schlafsaal weinte? Daran wollte er jetzt
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