Der fremde Sohn (German Edition)
lieber nicht denken, sich nicht eingestehen, dass alles anders hätte laufen können und dass sich durch ein Wort von ihm vielleicht sein ganzes Leben anders entwickelt hätte.
»Ich habe etwas für dich«, hatte seine Mutter seufzend gesagt. Offensichtlich war sie mit ihrer Geduld am Ende und stand kurz vor dem Punkt, an dem sie entweder verstummte oder losbrüllte. Sie verschwand kurz und kam mit mehreren Zeitschriften und Comicheften zurück. »Die hätte ich fast vergessen.«
Er nahm die Hefte. »Danke, Mum.«
»Für die lange Fahrt nach Denningham.«
Damals hatte sie den Hubschrauber noch nicht. Er erinnerte sich, dass er dachte: Weißt du denn nicht, dass mir schlecht wird, wenn ich im Auto lese?
»Und hier, nimm den auch mit.«
Seine Mutter legte Wert darauf, dass auf dem polierten Eichentisch in der Mitte der alten Eingangshalle stets eine Schale mit glänzenden grünen Äpfeln stand, von denen sie jedem Gast zum Abschied einen mitzugeben pflegte. Jetzt nahm sie einen Apfel, rieb ihn an ihrem Ärmel blank und reichte ihn Max.
»Weißt du, was mein Vater immer gesagt hat?«
Max sah, dass die Augen seiner Mutter in die Ferne schauten, und wenn ihr Blick nicht so starr gewesen wäre, hätte er glauben können, ihr kämen die Tränen. Er schüttelte den Kopf.
»Mein Vater tat sich schwer, mit mir zu reden, Maxie. Er war beim Militär und viel unterwegs. Er hatte glänzende Stiefel und einen steifen Schnurrbart.« Sie lächelte schwach. »Er wäre so stolz auf dich gewesen.«
Max bezweifelte das, aber er hörte weiter zu.
»Er sagte, wenn du einen Apfel isst und ans Kerngehäuse kommst, dann ist es, als ob du unendlich weit in die Zukunft blickst.«
»Warum?«
»Sieh nur die Apfelkerne, Caroline, sagte er zu mir. Aus jedem einzelnen kann ein Baum entstehen. Und wie viele Äpfel kann jeder von diesen Bäumen tragen, und wie viele Kerne haben dann wieder diese Äpfel?«
»So geht das dann weiter bis in alle Ewigkeit«, ergänzte Max fasziniert.
»Genau. Als Kind fand ich das aufregend. In den kleinen Dingen im Leben liegt große Hoffnung, wir müssen nur die Augen offen halten.«
Max war nicht sicher, ob er seine Mutter wirklich verstanden hatte. Er gab ihr einen Kuss und stieg ins Auto. Auf dem Weg nach Denningham blätterte er in einer Zeitschrift, während der Fahrer eine Melodie aus dem Radio mitsummte.
»Rätselbaum«, las Max laut. »Bringen Sie die Wörter in die richtige Reihenfolge und lösen Sie das Rätsel. Antwortpostkarten an … Fünfzig Pfund zu gewinnen …« Mit offenem Mund starrte Max seinen Apfel an, dann biss er herzhaft hinein. Noch zwei Bissen, und er war am Kerngehäuse angelangt, wo fünf schwarze Kerne in ihren kleinen Kammern lagen. Fünfzig Pfund, dachte er und überlegte, ob das wohl für die Taxifahrt nach Hause reichen würde, wenn er aus der Schule davonlief. Er zog einen Stift aus der Tasche seines Blazers und begann, das Rätsel zu lösen. Dabei aß er den Apfel auf. Fünf Kerne insgesamt. Fünf Bäume. Wenn jeder Baum ein paar Hundert Äpfel trug und jeder davon wiederum fünf Kerne hatte … So weit reichten seine Rechenkünste nicht. Er hätte seinen Vater fragen müssen, doch der war nicht erreichbar. Also begnügte sich Max vorerst mit »unendlich viele«.
So könnte man immer weitermachen, dachte er, während er das Fenster herunterließ und das Kerngehäuse hinauswarf. Einen Kern behielt er zurück und steckte ihn in die Tasche, weil ihm der Gedanke gefiel, dass etwas immer weiterging.
Am nächsten Tag steckte er das gelöste Rätsel in einen Umschlag und schickte ihn ab. Drei Wochen später bekam er einen Brief mit der Mitteilung, dass er fünfzig Pfund gewonnen hatte. So einfach war das. Am selben Tag zeigte sich der erste zarte Spross aus dem Apfelkern, den er in einen mit Erde gefüllten Joghurtbecher gepflanzt hatte. Es war ein schönes Gefühl, selbst unter ungünstigen Umständen etwas zu erschaffen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, selbst wenn alles andere beschissen war.
Und was war mit seinem Vater? Was wäre gewesen, wenn er nicht blind geworden wäre? Früher einmal hatte er geglaubt, dass es seine Schuld sei und dass sein Vater das Augenlicht nicht verloren hätte, wenn er, Max, nicht unartig gewesen wäre und zur Schlafenszeit herumgeschrien hätte. Wenn er nicht ausgerastet wäre, weil er wieder in die Schule musste, wenn er seinen Teller leer gegessen und immer sein Zimmer aufgeräumt hätte.
Max zog nun an seiner Zigarette, die
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